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„SPÖ: Durchbrüche als Doppelstrategie“

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Die Problematik einer Partei, einer Politik, „die zwei so unterschiedlichen Aufgaben gerecht werden soll, nämlich der Verwaltung des Staates einerseits und der Veränderung der Gesellschaft anderseits“, behandelt Heinz Fischer („Probleme des Regierungssozialismus“) in den „Roten Markierungen“.

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Die Problematik einer Partei, einer Politik, „die zwei so unterschiedlichen Aufgaben gerecht werden soll, nämlich der Verwaltung des Staates einerseits und der Veränderung der Gesellschaft anderseits“, behandelt Heinz Fischer („Probleme des Regierungssozialismus“) in den „Roten Markierungen“.

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Zentrales Anliegen des Sozialismus ist für ihn das ständige Fortschreiten, die permanente Veränderung der Gesellschaft: „Zunehmende Ubereinstimmung zwischen dem, was ist, und dem, was wir wollen, ist nur auf den ersten Blick erfreulich, langfristig aber alarmierend.“ Freilich gesteht er ein: „Kritisches, progressives Bewußtsein kann weder produziert werden wie Autos noch kann es auf Dauer unterbunden werden.“ Von dieser Position versteht man auch, daß Fischer — im Gegensatz zu Blechas „unverrückbaren Grundsätzen“ — die „Grundwerte der bestehenden Gesellschaftsordnung“ als „Zwischenwerte“ begreift. Das mag all denen zuwiderlaufen, die sich an einem festformulierten Programm, an Leit- und Grundsätzen orientieren wollen und auf den Tag hoffen, an dem diese Grundsätze verwirklicht sind — womit das Ziel erreicht ist. Fischer hingegen stellt die Behauptung auf und trägt damit der Dynamik unserer Gesellschaft voll und ganz Rechnung, daß es auch kein „sozialistisches Endziel, keine fix und fertige sozialistische Gesellschaftsordnung, sondern nur kurz-, mittel- oder längerfristige Zwischenziele“ gebe.

Realistisch sieht er das Problem für eine Regierungspartei, für eine Partei, die die „Schallmauer“ der 50 Prozent der Wählerstimmen durchbrochen hat und den Vorsprung weiter ausbauen will: Innovationen, Gesellschaftskritik, Aufhebung von Tabus werden wohl immer eine Sache von Minderheiten sein, eine Regierung wird hingegen den Konsens suchen, gleichzeitig aber neuen Modellen eine Chane; geben können und müssen. Aus dieser Polarität entwickelt Fischer eine Art „Doppelstrategie“: Regierung und progressive Gruppen müssen einander ergänzen. Was erstere nicht kann, nämlich „bestehende Verhältnisse radikal in Frage zu stellen“, können letztere. Und was diese nicht können, nämlich „Durchbrüche zu einem veränderten Bewußtsein abzusichern und zu erweitern, das bereits Durchsetzbare durchzusetzen“, kann die Regierung. Die Gefahr liegt allerdings darin, daß eine auf Konsens, auf Stimmengewinn hin orientierte Partei zugunsten dieser Orientierung allzu unbequeme progressive Kräfte zu bremsen sucht und sich durch versuchtes Unterdrücken dieser Kräfte eines Tages der Chance begibt, sie für sich und die Entwicklung der Gesellschaft nutzbar zu machen. Im übrigen sei noch eines festgestellt: Was hier an Strategie, an „Doppelstrategie“ entwickelt wurde, hätte in gleichem Ausmaß für die nunmehr zweitgrößte Partei zu gelten — die zugleich in der gegenwärtigen Situation den Nachweis liefert, daß das Zusammenspiel von progressiven Minderheiten und dem Großteil der Mitglieder so einfach nicht ist. Aber diesen Beweis findet die Sozialistische Partei wohl auch in ihrer eigenen Welt. So mag Fischers Doppelstrategie als Zwischenziel, hoffentlich nicht als Utopie verstanden werden!

Die Tatsache, daß Konflikte „an sich nichts Negatives, sondern eine Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie sind“, daß aber „die Anwendung proklamierter Ideale auf die eigene Praxis auch oft am schwersten fällt“, wird von Norbert Leser im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum „Auftrag des österreichischen Sozialismus“ betont.

Leser geht in seinem Beitrag auf die traditionelle Eingebundenheit des Sozialismus und auf dessen internationalen Charakter — ein Postulat, an das auch Heinz Fischer erinnert — ein, setzt sich mit der Beziehung von Sozialismus und Kirche ebenso auseinander wie mit der Beziehung zwischen Sozialismus und Marxismus, auf welchem Gebiet Leser unbestritten Fachmann ersten Ranges ist. Grundsätzlich hält er bei seiner Darstellung daran fest, daß der ..Marxismus um des Sozialismus willen da (ist) und nicht umgekehrt“. Zu den wichtigsten Wesenselementen des Sozialismus zählt Leser die Demokratie: „Das gesellschaftspolitische Grundapostulat der Demokratie besagt im sozialistischen Verständnis nicht nur — wie im liberal-bürgerlichen —, daß der politisch-staatliche Willensbildungsprozeß im engeren Sinne von unten nach oben und nicht von oben nach unten zu erfolgen hat. Es besagt auch, daß sich das demokratische Modell der Selbstbestimmung auch zur Anwendung in anderen Lebensbereichen eignet, um, wo immer möglich und tunlich, autoritäre Strukturen zu ersetzen, die der Fortpflanzung des gesellschaftlich maßgeblichen Willens von oben nach unten entsprechen.“ Dieses Bekenntnis zur Demokratisierung weitestmöglicher Lebensbereiche leitet Leser aus dem Grundwollen des Sozialismus ab, „die Gesellschaft durch Aktivierung der in ihr lebenden Menschen zu beleben und so zu gestalten, daß sich der Einfluß von Individuen und Gruppen nicht auf die Ausübung des Wahl- und Anhörungsrechtes beschränkt“, Außerdem stünde die Forderung der sozialistischen Bewegung im Einklang mit Artikel 1 der Bundesverfassung, demzufolge das Recht der demokratischen Republik vom Volke ausgehe. Sosehr Leser für Demokratisierung, Mitwirkung, Mitbestimmung eintritt, so wenig kann er sich einer Warnung entschlagen — „freilich wäre es töricht zu leugnen, daß es Grenzen der Demokratisierung und Gleichheit gibt“! Bedauerlicherweise versucht er hier eine Polarisierung der Einstellungen zur Demokratisierung durch die Etiketten „rechts: konservativ“ und „links: progressiv“. Weder ist rechts mit konservativ noch links ipso facto mit progressiv gleichzusetzen, wenngleich die beiden aufgezeigten Gefahren — Ängstlichkeit, Mangel an Zutrauen in die Möglichkeiten der menschlichen Natur einerseits und Überstrapazie-rung der menschlichen Natur anderseits — durchaus stichhältig sind. Allerdings werden Vertreter beider Spielarten in beiden „Lagern“ zu Anden sein. Leser selbst ist — verglichen etwa mit Fischer — vorsichtiger, bisweilen warnender. Während Fischer die Extrapolation in die Zukunft, in Richtung auf eine Utopie wagt, versucht Leser, die traditionellen Elemente des Sozialismus in seine Interpretation und Zielrichtung miteinzubeziehen.

In dem Maße, als er dafür eintritt, Demokratisierung habe von den Betroffenen erarbeitet und erprobt zu werden, habe von einem möglichst weiten Kreis diskutiert zu werden, wendet er dieses Modell des offenen Infragestellens auf die Grundsatzdiskussion an und folgert: „Überhaupt ist es unerläßlich, sich gerade angesichts einer Debatte, die über die Grundlagen des Sozialismus geführt wird, zum Bewußtsein zu bringen, daß die Organisation kein Selbstzweck ist und ständig mit den Zielen, denen sie dienen soll, konfrontiert werden muß.“

Auch das ist kein sozialistisches Spezifikum — ein ständiges Hinterfragen der eigenen Existenz und des Erreichten wie des neu Anzustrebenden gehört nämlich zum Wesen jeder sich als dynamisch begreifenden Partei!

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