6770996-1969_01_14.jpg
Digital In Arbeit

Die blaue Blume der Revolution

19451960198020002020

Das Infragestellen der herkömmlichen Gesellschaftsstrukturen, die Kritik und das Unbehagen an der parlamentarischen Demokratie, das Ringen um eine revolutionäre oder evolutionäre Veränderung, das Problem der Gewalt — all dies ist in unserer Zeit Anlaß genug, über die Vergangenheit, ebenso aber über die Zukunft Österreichs nachzudenken.

19451960198020002020

Das Infragestellen der herkömmlichen Gesellschaftsstrukturen, die Kritik und das Unbehagen an der parlamentarischen Demokratie, das Ringen um eine revolutionäre oder evolutionäre Veränderung, das Problem der Gewalt — all dies ist in unserer Zeit Anlaß genug, über die Vergangenheit, ebenso aber über die Zukunft Österreichs nachzudenken.

Werbung
Werbung
Werbung

Norbert Leser, von Prof. Stadler Im Vorwort als einer der belesensten und scharfsinnigsten Wissenschaftler der Nachwuchsgeneration gerühmt — erstere Behauptung erscheint durch das ausgezeichnete Literaturverzeichnis erhärtet —, hat mit dem vorliegenden Buch eigentlich ein veigangenheitsbezogenes Werk geschrieben. Und doch zwingt es förmlich dazu, unsere eigenen Positionen, schon im Hinblick auf die ähnlichen Fragestellungen und ihre damaligen Lösungsversuche zu überprüfen. Wenn es so ist, daß der Mensch, somit auch die Gesellschaft, aus der Geschichte lernen kann, so war dieses Buch notwendig, als Analyse einer politischen Gruppierung durch Konfrontation ihrer Handlungen an ihrer eigenen Theorie.

Bedeutsam ist dieses Buch vor allem deshalb, da es wohl die erste v/irklich kritische Selbstdarstellung der österreichischen Sozialdemokratie (bis vor zwei Jahren tauchte der Begriff „Austromarxismus“ in der Literatur kaum auf) unter Aufarbeitung der gesamten verfügbaren Primär- und Sekundärliteratur beinhaltet. Dem Autor zufolge ist der Austromarxismus nicht nur am politischen Gegner und den historischen Gegebenheiten gescheitert, sondern auch und vor allem an der eigenen Widersprüchlichkeit zugrunde gegangen.

Der Titel des Buches, „Zwischen Reformismus und Bolschewismus“, deutet bereits das notwendige Versagen des Austromarxismus an. Und Leser zeigt diese gegensätzlichen Konzepte an ihren Repräsentanten, Renner und Bauer, auf' und vergleicht an Hand ihrer Schriften und Reden ihre Einstellungen zu Demokratie, Sozialismus, Staat, Klassenkampf, Revolution usw. Das „linke“ Konzept Bauers, ebenfalls hin und her gerissen zwischen radikaler Formulierung und reformistischer Praxis, und das „rechte“ Renners, der wiederum in Diktion und theoretischer Grundlage sein sozialistisches Gewissen retten wollte.

War für Renner die Demokratie notwendig für das Wesen und den Bestand des Sozialismus, so betrachtete Bauer sie nur als Durchgangsstadium.

Stand Renner in seiner staatsrechtlichen Konzeption Kelsen näher als Marx, übernahm Bauer immer mehr die Position Lenins in der Definition der Demokratie als, wenn auch verfeinerte und humanisierte, Form der Klassenherrschaft. Umgekehrt wieder lehnte er aber auch das Modell einer Erziehungsdiktatur, in der eine linke Minderheit von Berufsrevolutionären und Intellektuellen das noch fehlende sozialistische Bewußtsein der Arbeiterschaft zunächst ersetzen und in sie hineintragen sollte, ab. „Das würde ein bürokratischer Sozialismus sein, kein demokratischer ... Wir wollen den demokratischen Sozialismus, das heißt, die wirtschaftliche Selbstverwaltung des ganzen Volkes “

Er träumte von der Revolution, hielt sie für unausweichlich und unabdingbar, gleichzeitig aber in seinem Erfahrungsbereich für unmöglich. Durchaus in der Tradition der französischen Revolution stehend, verkündete er: „Noch umgeben uns unzählige Bastillen. Alle sind zu stürmen und zu zerschlagen! Und jeden Tag, wenn wir nur wollen, jeden Tag können wir eine Bastille sprengen. Es sind nicht täglich die großen Bastillen zu zerstören. Aber in der Zwischenzeit kann man unzählige kleine Bastillen niederwerfen, Bastillen des Aberglaubens, Bazillen der Ausbeutung, Bastillen der Knechtschaft, täglich kann man tanzen auf den Trümmern irgendeiner Bastille.“ Schon aus diesem kurzen Zitat läßt sich etwas von der Faszination erahnen, die Bauer ausstrahlte und die den Austromarxismus zusammenhielt. Dennoch war, so Leser, das Reden von der Revolution Alibi, denn gegenwärtig nicht Lösbares ließ sich damit bequem in die Ferne schieben und verdrängen.

Leser kritisiert den Austromarxismus schonungslos, wirft ihm Fixierung an Bauer vor und krampfhaftes Bemühen, die Einheit der Partei zu erhalten, wofür als Preis für die Vermeidung der Spaltung allerdings Immobilität und Ausweichen vor jeder Entscheidug zu zahlen war. Er greift seine Politik, „die Linie des geringsten Widerstandes zu finden und auf dieser Linie den Fortschritt durchzusetzen“ (Victor Adler), an, die jedenfalls langfristig gesehen eben keine zielführende sei, da ohne Eingehen eines echten Risikos, ohne den Versuch, über den eigenen Schatten zu springen, keine historischen Fortschritte zu erzielen seien.

Der Autor macht aus seinen Sympathien kein Hehl und läßt keinen Zweifel daran, daß er den möglichen Ausweg in der revisionistischen Konzeption Renners gesehen hätte. Vielleicht kritisiert er zu hart, da er die historische Wirklichkeit des Austromarxismus an Idealvorstellungen mißt, denen wohl keine Partei entsprechen könnte. Denn es gibt wohl kaum ein Beispiel in der Geschichte, in dem ein theoretisches Konzept in reiner Form in politische Wirklichkeit umgesetzt werden konnte. Somit trifft die Kritik Lesers nicht nur den Austromarxismus, sondern ist Anlaß für jede politische Gruppierung, ihre eigene Praxis an ihren Zielvorstellungen, sofern sie überhaupt welche hat, zu messen. Insofern ist Lesers Buch wirklich ein aktuelles Buch: Für die traditionellen Parteien, die einmal begangenen Fehler nicht zu wiederholen, für den Parlamentarismus, seine Effizienz zu überprüfen, für seine Kritiker, ihre Alternativvorstellungen zu konkretisieren und derselben Analyse zu unterziehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung