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Der Grenzgänger mit dem offenen Visier

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In den sechs Jahrzehnten seines Lebens, die Norbert Leser am 31. Mai vollenden wird, hat er einen Lernprozeß durchschritten, der vor allem für alle diejenigen aufschlußreich ist, die - wie er - die Entwicklung des Sozialismus wachen Auges verfolgen.

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In den sechs Jahrzehnten seines Lebens, die Norbert Leser am 31. Mai vollenden wird, hat er einen Lernprozeß durchschritten, der vor allem für alle diejenigen aufschlußreich ist, die - wie er - die Entwicklung des Sozialismus wachen Auges verfolgen.

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Norbert Leser, den Friedrich Heer einmal als „personifizierten Kreuzungspunkt unserer Traditionen" und ein anderes Mal als „den Denker der Koexistenz der beiden großen politischen Lager in der Zweiten Republik" bezeichnete, ist ein Grenzgänger, wie er ihn selbst in zwei Büchern, einmal aus dem katholisch-konservativen Bereich (1981) und dann aus dem sozialistischen-marxistischen Bereich (1983) beschrieben hat. Er ist ein Grenzgänger mit offenem Visier, der seine Leser an seinem Lernprozeß teilnehmen läßt: In mehr als zwanzig selbständigen Büchern (als Autor und Herausgeber) und einer unübersehbaren Reihe von Artikeln.

Sein wissenschaftlich fundierter und persönlich erlebter Erkenntnisprozeß liest sich insgesamt wie eine Entwicklungsanalyse des österreichischen Sozialismus unter den Aspekten einer kritischen Sozialphilosophie, von der er aber selbst überzeugt ist, daß sie auch Aussagen über den Sozialismus im allgemeinen erlaubt.

Was ihn frühzeitig zum Sozialismus hingezogen und seiner Program-matik verpflichtet hat, war nach seinen eigenen Worten „der in ihm vorherrschende Gleichheitsgedanke, das Bestreben, den Schwachen und Unterdrückten zu helfen und Ungerechtigkeiten aus der Welt zu verbannen". Vor allem die,.Flügelfiguren des Au-stromarxismus, Karl Renner zur Rechten und Max Adler zur Linken", hatten ihn seit jeher motiviert, sich um die „Bergung ihres Erbes" zu bemühen. Lebenssinn und Ethik hingegen fand er im Christentum. Mit seinem Lehrer August Maria Knoll teilte Leser- dem ich dort auch zum ersten Mal begegnet bin - die Symbiose echter sozialer Gesinnung, tiefen Zugehörigkeitsbewußtseins zur katholischen Kirche, leidenschaftlichen persönlichen Engagements sowie der bekennenden Bereitschaft, seine Überzeugungen auch gegen herrschende, unduldsame Meinungen zu vertreten.

Stellenwert der Persönlichkeit

Die Hinwendung zum Sozialismus ist als Abwendung von einem gewissen Unverständnis erklärbar, welches er damals in konservativen Kreisen für soziale Probleme und für die Ausdehnung des Gleichheitsgedankens vorzufinden glaubte. Gleichzeitig aber mußte er dort, wo er die Prinzipien der Gleichheit und der sozialen Reformen besser gewahrt glaubte, einen „erschreckenden Mangel an Verständnis und Interesse für metaphysische Fragestellungen und Probleme" beklagen. Im Gegensatz zu der in der Sozialdemokratie nach wie vor dominierenden materialistischen Geschichtsauffassung setzt Leser den Stellenwert der Persönlichkeit höher an und billigt ihr gegenüber den Umständen, die sie formen, eine relative Selbständigkeit und eine verantwortliche Entscheidungsfähigkeit zu.

In seinem Essayband anläßlich der hundertsten Wiederkehr des Einigungsparteitags von Hainfeld empfahl Leser „aus realistischer Reformperspektive - konträr zur sozialistischen Tradition - sich mit der katholischen Soziallehre zu verbinden, vor allem gegenüber den Tendenzen zur Verwischung der Grenzen zum Kommunismus und zur anarchischen Destruktion, die er damals an den „linken Rändern" feststellte.

Die Entfremdung von seiner Partei - in welche er „soviel Arbeit und Energie investiert" hatte - vollzog sich in Etappen über lange Jahre hin: Im Jahrzehnt 1973 bis 1983 war es noch überwiegend das Schweigen zu

seinen Aussagen, das ihm zu schaffen machte. Als er im Zusammenhang mit dem 50. Gedenktag des Februar 1934 die These von der „geteilten Schuld" wiederholte und mit zusätzlichen Argumenten begründete, erhob sich in der Partei ein Sturm der Entrüstung und es wurden Stimmen laut, die seinen Parteiausschluß verlang-• ten. Was ihn so schockierte, war die Tendenz, eine wissenschaftlich erarbeitete und wohl begründbare These einfach politisch abzukanzeln.

Der Umstand, daß ihn die FURCHE 1987 einlud, regelmäßig Kolumnen zu schreiben, betrachtet Leser als nicht zufällig, sondern in der Logik seiner Entwicklung gelegen.

Seine Begründung für das offene Grenzgängertum ist brandaktuell: Bei allen Versuchen, Polarisierungen in der Politik der beiden Koalitionspartner hervorzukehren, ist die Kongruenz und Überschneidung zwischen den beiden großen Lagern der Innenpolitik unverkennbar. Will man - meint Leser - die Koalition nicht durch gewollte Polarisierung zerstören, dann erscheint es ihm sinnvoll, an der Herausarbeitung einer tieferen Gemeinsamkeit als sie das tagespolitische Programm der Regierungsarbeit bietet, mitzuwirken, ohne daß man dabei

befürchten müßte, in Grundsatzlosig-keit zu verfallen. Er stellt die Frage, ob denn Grundsätze dadurch, daß sie nicht mehr trennen, sondern verbinden, an Bedeutung verlieren.

Nicht minder offen bekennt sich Leser zu dem, was ihn veranlaßt, dennoch an der Mitgliedschaft zu seiner Partei festzuhalten, obwohl ihm seine Analysen zum Schluß führten, daß „in dem Maße, in dem Kapitalismus

im klassischen Sinn obsolet wird, auch der Sozialismus an Boden und Wahrscheinlichkeit verliert, der nur als Gegenspieler und Rivale des Kapitalismus historischen Sinn macht".

Kirche und Sozialismus, in denen Leser schon aus burgenländischer Familientradition stets um seine „Doppelbürgerschaft" gekämpft hat, erweisen sich ihm schließlich aber als ungleiche Partner: Die katholische Kir-

che, „die sowohl intellektuell als auch moralisch und gefühlsmäßig die höchsten menschlichen Energien zu binden und die menschlichen Antriebe nach dem Höheren, die nun einmal über die Welt hinausweisen, zu sättigen vermag"; der Sozialismus hingegen „der ein neues Brot für die Massen sein und sich an die Stelle der kapitalistischen Gesellschaftsordnung stellen wollte, blieb und bleibt zwar Salz, Würze, Zutat, war und ist aber außerstande, das neue Brot zu sein und zu geben, als das er sich verstand" und der gar „die besten Tage bereits hinter sich und nichts Weltbewegendes mehr vor sich hat".

Ist nicht auch eine Vision denkbar, die über das Verhältnis von Kirche und Sozialdemokratie hinaus neue Partnerschaften erhoffen läßt, die quer durch alle politischen Gruppierungen geht und als Symbiose von christlicher Sinnfindung und neuem Institutionendenken beschrieben werden kann? Die Richtung der Kooperation, für die sich Leser nachhaltig einsetzt und für die er ein unentbehrlicher Beobachter und Beweger ist, steht dazu nicht in Widerspruch. Wir dürfen seinen weiteren Weg - auch in seiner Kolumne „Von Leser zu Leser" - mit Interesse begleiten.

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