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Bekenntnis und Anklage

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Religion und Politik. Von Otto Tichadek. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. 28 Seiten. Preis 5 S

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Religion und Politik. Von Otto Tichadek. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. 28 Seiten. Preis 5 S

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Der Sozialismus aller Riten ist nun auch im weltanschaulichen Bereich in die Periode des (ersten) Revisionismus eingetreten. Man kann das Gespräch zwischen Katholiken und Nur-Sozialisten auf Grund der besonderen Art, wie es derzeit geführt werden kann, als einen Index dieses Sachverhaltes ansehen.

Der österreichische Sozialismus — schon als Austro-marxismus ein kühnes gedankliches Experiment — vermag auch diesmal innerhalb des kontinentalen Sozialismus seine eigene Note zu bewahren. Freilich ist es ein Vorstoß von der Seite der Praxis her, von der Praxis der Verwaltung und des Lebens auf allen Stufen der Gesellschaft. Schon in der Ersten Republik gab es innerhalb des Sozialismus in Oesterreich bemerkenswerte Bekenntnisse zur Kirche. Es waren aber nur die kleinen Leute im Sozialismus, die es wagen konnten, eine Vereinbarkeit von Sozialismus und kirchlich eingestelltem Christentum anzunehmen. Oben, in den Führungsgremien, gab es keine einzige Stimme, die dem Katholizismus oder gar der katholischen Soziallehre gerecht zu werden versuchte.

Im Sozialismus der Zweiten Republik ist es anders. Die Führung der SPOe, mehr als ihre Gefolgschaft, betont nachdrücklich das Bestehen der Möglichkeit, zu einem neuen Verhältnis zur Kirche zu kommen.

Der österreichische Justizminister, neben dem Staatssekretär im Bundesministerium für Landesverteidigung der zweite von sozialistischer Seite in die Regierung entsandte Katholik, war schon lange, bevor es zur Durchsetzung des Prinzips der „Tausend Blumen“ im österreichischen Sozialismus kam, ei| Vertreter jener sozialistischen Richtung, welche ein Arrangement mit der Kirche nicht nur als möglich, sondern sogar als notwendig ansah, um so mehr, als er sich ja selbst als Katholik bekennt.

In der vorliegenden kleinen Schrift unternimmt es nun der sozialistische Justizminister, nicht nur eine Summe seiner bisherigen Bemühungen um einen Ausgleich von SPOe und Kirche zu ziehen, sondern aus dem Grundbefund des Sozialismus heraus die in ihm angelegten Möglichkeiten, das Verhältnis zur Kirche positiv abzustimmen, darzustellen. .

Die Schrift hat nun zwei Teile, wie alle neueren sozialistischen Publikationen, welche sich mit der Frage von Sozialismus und Kirche in Oesterreich befassen.

Im ersten Teil untersucht der Verfasser vor allem die Ursachen, welche die Spannungen zwischen “Arbeiterbewegung und Kirche bestimmt haben. Nun kann man dem Autor in seinen historischen Darstellungen leider nur zum Teil folgen. Was die historischen Irrtümer betrifft, hat Bundesrat Dr. Tzöbl in den „Oesterreichischen Monatsheften“ das Wesentliche gesagt.

Was abgelehnt werden muß, ist die Methode der Vereinseitigung der geschichtlichen Darstellung. Niemand unter den Katholiken wird leugnen, daß die Kirche gegenüber dem ,.Bürgertum“ Bindungen eingegangen war, auch in der Ersten Republik, die der Arbeiterschaft die Annahme erleichterten, die Kirche sei eine „klassenfeindliche“ Institution. Leider Unterläßt es der Autor, zu sagen, warum die Kirche ihre Bindung mit Gruppen eingehen mußte, deren Denken und Handeln keineswegs dem Dekalog entsprachen und entsprechen konnten. Die Führung der Sozialdemokraten — fast durchweg fanatische Kirchenhasser — gab der Kirche so gut wie keine Gewähr, daß sie auch nur im geringsten geneigt Sei, die Rechte der Kirche lediglich dem Prin-'n nach an7uerkennen. Man kann sich, liest man die sozialistische Literatur der Zeit der Ersten Republik,

des Eindrucks nicht erwehren, daß die sozial-reformatorischen Bestrebungen der Sozialdemokraten gegenüber den weltanschaulichen Engagements nur zweitrangige Bedeutung hatten. Es muß nun anerkannt werden, daß der Verfasser die Rolle der Freidenkerbewegung innerhalb des Sozialismus in Oesterreich und die von ihr provozierte Störung des Verhältnisses zur Kirche nicht übersieht. Dagegen unterläßt es der Autor, darauf hinzuweisen, daß die Führer der alten Sozialdemokratie so gut wie ausschließlich Freidenker waren und daß man sehr daran interessiert war, in der Sozialdemokratischen Partei lediglich die politische Institution der Freidenkerbewegung zu sehen. Das muß gesagt werden. Man kann nicht gut von den Katholiken verlangen, daß sie sich unwidersprochen die nun langweilig gewordenen einseitigen Darstellungen des Verhältnisses zwischen Kirche und Sozialismus anhören und davon Kenntnis nehmen, daß so gut wie alle Schuld bei der Kirche gelegen war, während die sozialdemokratischen Führer eigentlich verhinderte fromme Katholiken waren.

Noch zweckdienlicher wäre es freilich, man ginge endlich vom Historisieren ab. Das, was war, ist sicher zum Verständnis der gegenwärtigen Beziehungen von Kirche und Sozialismus wichtig, aber nicht erstwichtig. Seit Jahr und Tag werden wir nun aufgefordert, endlich einmal alle Schuld auf uns zu nehmen und die vollendete Sündenlosigkeit des österreichischen Sozialismus zu betonen. Es wäre doch besser, wir würden Wert darauf legen, daß wir heute und morgen die Beziehungen von Arbeiterschaft und Sozialismus neu regeln. Auch dem Sozialismus müßte an einem solchen neuen Verhältnis sehr gelegen sein, will er so etwas „wie angewandte Ethik“ sein. .

Im zweiten Teil der Broschüre kommt der Katholik Tschadek zu Wort und betont nicht nur die Notwendigkeit, sondern die bereits gegebene Möglichkeit, daß Katholiken auch Sozialisten sein können. Wir stimmten dem zu, vor allem “dann, wenn der Sozialismus so wäre, wie ihn der Herr Justizminister vertritt. In Oesterreich ist freilich der Sozialismus eine unvermeidbare Mischung unterschiedlicher Darstellungsformen des Sozialismus, wenn auch das weltanschauliche Element im Marxismus derzeit kaum betont wird.

Der .Verfasser sieht im Sozialismus eine innerweltliche Methode der Reform der Gesellschaft, eine Systematik zur Erneuerung der Gesellschaft. Zu dieser Systematik könne man sich bekennen, ohne einen Abstrich von seinem katholischen Bekenntnis vornehmen zu müssen.

Gleichzeitig befaßt sich der Autor, seine Gedankengänge fortführend, mit den drei strittigen Fragen von Konkordat, Ehegesetzgebung und Schule. Dabei gibt er zu, daß es im Wesen nicht um Prinzipien, sondern weithin um Worte (wenn nicht um Prestiges) geht, so daß eine Lösung durchaus möglich sein müßte.

Die Broschüre ist ein Zeitdokument. Hätte man sie vor einigen Jahrzehnten auf sozialistischer Seite (und dazu noch im Parteiverlag) publiziert, wäre es eine Sensation gewesen. Daß wir heute die Publikation mit Dankbarkeit und Anerkennung, aber nicht mit den Zeichen des Erstaunens zur Kenntnis nehmen, ist ein Beweis dafür, wie sehr sich die Verhältnisse gewandelt haben und wie weit bereits die Kirche aus den tagespolitischen Auseinandersetzungen, wie sie jede reife Demokratie nun einmal bringt, herausgehalten werden kann. i

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