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Sozialismus und Kirche

19451960198020002020

KATHOLIZISMUS UND FREIHEITLICHER SOZIALISMUS IN EUROPA. Herausgegeben von Albrecht Langher. Verlag J. F. Bachem, Köln. 112 Selten. DM 36.—.

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KATHOLIZISMUS UND FREIHEITLICHER SOZIALISMUS IN EUROPA. Herausgegeben von Albrecht Langher. Verlag J. F. Bachem, Köln. 112 Selten. DM 36.—.

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Je mehr der demokratische Sozialismus mit einer Welt konfrontiert wird, die sich seinen ursprünglichen und ihn begründenden Vorstellungen einer Soll-Ordnung annähert, um so offener wird unvermeidbar auch seine Haltung gegenüber dem Phänomen „Kirche, konkret der katholischen Kirche. Deswegen schon von einer „Annäherung zu sprechen, ist nicht allgemein, sondern nur dann möglich, wenn man auf eine bestimmte regionale Situation Bedacht nimmt.

Nach einer jahrhundertelangen gegenreformatorischen Befangenheit öffnet sich die Kirche seit Johannes XXIII. ebenfalls einer ganzen Welt, auch sozialistischen Vorstellungen. Ebenso dem Liberalismus. Und jenem Atheismus, dem sein Nicht-glauben-Wollen ein Anliegen ist und nicht Ausdruck von Apathie. *

Die Haltung des Sozialismus gegenüber der Kirche ist je Land verschieden, nach der Erfahrung seiner Anhänger mit einer lokalen, geschichtlichen Kirche, die den Sozialismus in seinen Antithesen vielfach programmiert hat, etwa wenn sie einzelne Erscheinungsformen der Ausbeutung unter Hinweis auf eine zeitweilige völlig falsch interpretierte Eigentumsordnung zu rechtfertigen suchte. Jedenfalls bedarf eine auf einem Quellenstudium fußende Analyse des Verhältnisses von Kirche und Sozialismus heute mehr denn je einer länderweisen Abgrenzung. Der Sozialismus ist keine globale Einheit. Ebensowenig wie die christlichen Demokraten, deren Programm und Verhaltenspraxis die besonderen nationalen Bedingungen, unter denen sie jeweils bestehen müssen, anzeigt.

Die vorliegende Sammlung von Untersuchungen zum Kirche-Sozialismus-Verhältnis nimmt auf die wichtigsten europäischen Ländersozialismen Bezug; leider nicht auf den Sozialismus Italiens, in dem weniger das Verhältnis zum Katholizismus als mehr jenes zur institutionellen Kirche eine Gegenidee geworden ist.

9i In einer ausgezeichneten Einführung des Herausgebers wird auf die gleiche Herkunft von Sozialismus und Kapitalismus hingewiesen: auf den Liberalismus. Provoziert durch dessen im Kapitalismus angezeigte sozialökonomisch dargestellte Perversion, entwickelt der junge Sozialismus die Idee einer eigenen Klassenethik, die schließlich in der EinMann-Ethik eines Stalin ihre Verengung und Aufhebung finden sollte. Die allgemeine Ethik christlicher Provenienz wird, weil sie scheinbar nur dem Starken nutzbar sein kann, abgelehnt. Eindeutig geschieht dies seit dem Gothaer Programm. Uberall da, wo in der Welt die Kirche (nicht der Katholizismus, den es nicht gibt) auf Durchsetzung ihrer, das heißt einer allgemeinen Moral, drängt, gerät sie mit dem Sozialismus in Konflikt, vor allem in Fragen der Schule, der Ehe und in einzelnen Sozialtheorien. Schon um die Jahrhundertwende ist aber die Respektierung einer allgemeinen Ethik (Wirkung des Neukantianismus im Sozialismus, vorbereitet von Lange und Cohen) im Sozialismus unverkennbar. Die Wende kommt mit der Frankfurter Erklärung der Sozialistischen Internationale, mit der Deklaration des Sozialismus als eines sozialreformerischen Systems bei einem weltanschaulichen Pluralismus im Sinne Lasallescher Indifferenz. Zugleich integrieren sich Gruppen im europäischen Sozialismus als religiöse Sozialisten (an der Heppenheimer Tagung hat im übrigen Max Weber nicht teilgenommen; er ist schon 1920 gestorben!), bis es auf der Konferenz von Bent-veld (1953) zu einer Proklamation christlicher Sozialisten kommt, die im Christentum eine der geistigen Wurzeln des Sozialismus zu sehen vermögen.

Der Herausgeber befaßt sich nun mit der deutschen Situation und weist auf die bemerkenswerte (wenn auch in der BRD lokal nicht immer praktizierte) konziliante weltanschauliche Haltung der Sozialisten hin, freilich gegenüber einer Kirche, die im Dritten Reich selbst verfolgt gewesen und weitgehend auf Seite der Arbeitnehmer gestanden war.

Wesentlich anders in Frankreich (Jean-Claude Criqui). Der französische Sozialismus pflegt einen Antiklerikalismus, der sich von der kommunistischen Spielart lediglich durch einen Mangel an Konzept unterscheidet, aber sicherlich auch die Folge des Verhaltens orthodoxkonservativer Kreise im französischen Katholizismus ist, der, wie ■onst nirgendwo in der Welt, eindeutig getrennte Flügel aufweist, von denen wir je nach Standort stets den einen als repräsentativ für die französischen Katholiken reklamieren.

In den Niederlanden (S. W. Cou-wenberg) hat sich ein pragmatischer Sozialismus etabliert, der bereits weitgehend von der Kirche als faktisch unbedenklich sanktioniert wurde.

In Österreich (Wolfgang Mantl von der Hochschule für Welthandel) ist der Sozialismus mehr eine Reaktion auf den politischen Katholizismus als auf die Haltung der Kirche selbst. Umfangreiche Belege führen uns auf den sachlich historischen Ursprung des Konfliktes, ebenso wie die heroischen Versuche katholischer Sozialisten erwähnt werden.

In der Schweiz (Guido Casetti) ist der Sozialismus stets eine pragmatische Erscheinung und nie Versuch einer Gegenkirche gewesen.

Der belgische Sozialismus (Jean Delfosse) ist mit dem französischen, weil weitgehend eine wallonische Angelegenheit, vielfach verwandt.

Im Anhang des Buches werden die jüngsten Fassungen der Programme der oben erwähnten sozialistischen Parteien publiziert.

Das ausgezeichnete Buch ist nicht so sehr eine grundsätzliche Auseinandersetzung, wenn man von der Einleitung absieht, sondern mehr eine Dokumentation, die uns beweist, wie weit der Sozialismus im Wandel ist und dies, angesichts der sachlichen Bedingtheit seiner Ideen und seiner programmatischen Aussagen, auch sein muß.

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