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Linke in der Zange
Die Veränderungen, die in der Sowjetunion, aber auch in anderen Ländern des „realen Sozialismus“ und in Jugoslawien, das zwar nicht zum Ostblock, aber seiner Wirtschafts- und Gesellschaftsform nach zum sozialistischen Lager“ gehört, vor sich gehen, sind so sprunghaft und gewaltig, daß sie vielen den Atem verschlagen und über das hinausgehen, was sie für möglich gehalten haben. Es gibt auch solche, denen die stürmische Entwicklung auch bis auf weiteres die Rede verschlägt.
Zu diesen wenigstens vorläufig verstummten Zeugen der Ereignisse in den kommunistischen Ländern gehören linke Sozialisten wie Josef Hindels, die den Reformprozeß anfangs begrüßten, nun aber erleben müssen, daß sich dieser nicht in Richtung auf einen „integralen Sozialismus“ Otto Bauerscher Prägung bewegt, sondern Elemente des Kapitalismus reintegriert und rehabilitiert. Während Otto Bauer eine unter marxistischen Vorzeichen ablaufende Renaissance des Sozialismus anstrebte und vorhersagte, ist man in kommunistischen Ländern gegenwärtig drauf und dran, nicht nur den Stalinismus und Leninismus, sondern auch den Marxismus und den orthodoxen Sozialismus über Bord zu werfen.
Besonders weit geht man in dieser Hinsicht in Jugoslawien und dort wieder besonders in Slowenien, wo der Gründer einer vorläufig nicht als Partei zugelassenen sozialdemokratischen Gruppierung, France Tomsic, äußerte, daß der Marxismus den Sozialismus zugrunde gerichtet habe und daß der Kommunismus ein .Jrrtum der Geschichte“ sei. Im Gegensatz also zu Otto Bauer und seinen Epigonen wird die Oktoberrevolution und alles, was in ihrem Gefolge auftrat, nicht gerechtfertigt, sondern problematisiert.
Die sozialistische Linke gerät in ihrem sektiererhaften Bestreben, den Gral des Sozialismus zu hüten und in die Zukunft zu retten, in eine ihre Identität bedrohende Zangenbewegung. Sie wird von zwei Seiten her in die Enge getrieben: vom Kapitalismus, der nicht zusammenzubrechen und abzudanken gedenkt, sowieso, aber auch vom etablierten Sozialismus, der auch viel von dem abstreifen will, was den Hütern der reinen Lehre im Westen, die auf bessere oder schlechtere Tage zur Erfüllung ihrer Träume warten, nach wie vor sakrosankt ist. Wir sind Zeugen eines welthistorischen Prozesses, der, vorläufig nur gedanklich — morgen vielleicht aber schon real — im Gebäude des Sozialismus keinen Stein auf dem anderen läßt, wenn auch sozialistische Ideen nicht aufhören, als Impulse und Bruchstücke weiterzuwirken.
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