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Die Krisis des europäischen Sozialismus

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Es ist zu einem Schema geworden, immer wieder von „historischen Zeiten“, von „Beschlüssen von unabsehbarer Tragweite“ und von „Krisen“ zu schreiben. Die übertriebene Anwendung solcher Wendungen macht sie schließlich zu Schlagworten, die ins Leere fallen. Wenn aber eine Situation es verdient, als Krisis bezeichnet zu werden, so ist es sicherlich die gegenwärtige Lage des europäischen Sozialismus.

Diese Krisis datiert nicht von gestern. Nach einer wunderbaren Entfaltung am Anfang dieses Jahrhunderts, die den Sozialismus zur irdischen Hoffnung von Millionen machte, schließt die Ermordung von Jean Jaures als ein blutiges Ausrufungszeichen diese Glanzzeiten ab. Mit dem ersten Weltkrieg beginnt die Gewissensprobe des Sozialismus, und in der Spaltung der Internationale tritt das Problem in seiner ganzen Tragik harvor.

Die Worte von Marx, der den Klassenkampf, die Erhebung des Proletariats, aber auch die Brüderlichkeit aller Arbeitenden über die Grenzen hinaus und das Recht des Ärmsten und des Bedürftigsten auf ein erträgliches Leben verkündete, blieben die gleichen, während die Gesellschaftsstruktur, der sie einst angepaßt waren, rapid dahinschwand. Es erwuchsen neue Aufgaben, es kamen neue Menschen, und die neuen Führer und Epigonen, die ihm in allen Ländern erwachsen sind, konnten die Last der ersten Ideenpreisgabe, die manche unter ihnen während des ersten Weltkrieges geübt hatten, nicht ertragen. Sie schlugen den Weg der Kompromisse und der Konzessionen ein, sie hatten keine andere Wahl. In der Opposition konnten sie sich noch der großen Waffe und des Verjüngungsmittels bedienen, das ein Streik, das die direkte Aktion bedeutet. Sobald aber die einzelnen Sektionen der Sozialistischen Internationale in Großbritannien und später in Frankreich nach den Regeln der Demokratie die Regierungsgeschäfte selbst übernahmen, zeigte es sich, daß die Lösung dringender praktischer Probleme vor der Verwirklichung programmatischer und doktrinärer Vorhaben zu gehen hatte, die durch die Zeitentwicklung unerhört waren.

Die ersten Tage der Nachkriegszeit brachten die Sozialisten in den meisten europäischen Staaten an die Regierung. Dieser Erfolg sollte ihnen zum Nachteil gereichen, er führte in kurzer Zeit den inneren Zerfall der internationalen sozialistischen Einheit herbei. Wenn jemand an der Richtigkeit dieser Behauptung zweifeln sollte, so denke er an die Zeiten zurück, da ein internationaler Kongreß noch allgemeingültige Schiedssprüche fällen konnte, die sogleich respektiert wurden, und dann werfe er einen Blick auf die Lage in Italien, und zähle die Parteien, die sich alle .sozialistisch benennen. Nein, der europäische Sozialismus hat durch den scheinbaren Sieg seiner einzelnen Landessektionen die größten Nachteile davongetragen.

Er befindet sich in einer Krisis der Macht, einer Krisis der veränderten wirt-schaftlichen Lage, und in einer Krisis der Dialektik und der Parteidoktrin. Einer Krisis der Macht: denn die regierenden sozialistischen Parteien können sich dem Trubel der sich bekriegenden nationalen Interessen nicht entziehen. Nach der gezwungenen Abwendung vom Pazifismus kommt die Nichtdurchsetzung der internationalen Brüderlichkeit. Man mag darüber diskutieren, ob diese beiden Prinzipien recht oder schlecht seien. Aber sie stehen wohl im Programm jeder Partei, die sich sozialistisch nennt und auf Marx beruft, und es gab bisher noch keine sozialistische Partei, die sich von ihnen offen abgewandt hätte. Leider aber geben die Handlungen den Anschein, als ob diese Abwendung schon längst erfolgt wäre. Denn heute steht der deutsche Sozialist dem französischen ebenso gegnerisch gegenüber, wie der französische dem britischen Kameraden gegenüber eine aufrichtige Ungeduld an den Tag legt.

Der Sozialismus befindet sich, wie wir sagten, auch in einer Krisis der veränderten wirtschaftlichen Lage. Man kann heute nicht mehr vom „bösen Unternehmer“ sprechen, da doch dieser der Staat ist, der in den meisten Fällen den Großteil der von den Sozialisten seit der Jahrhundertwende geforderten Reformen unter ihrem Druck schon verwirklicht hat. Heute wird es immer mehr aktueller, neben der Verantwortung des Unternehmers, auch von der Verantwortung der Gewerkschaften zu sprechen, und es ist ein Lichtblick für die Zukunft, daß sich die Zahl der verantwortungsbewußten Gewerkschafter in Europa allmählich vermehrt.

Daß die sozialistischen Versuche der Nachkriegszeit höchst fragwürdige Ergebnisse ergaben, ist bekannt. Die Welle der Verstaatlichungen versetzte den modernen Staat in eine schwierige Lage, und das Dilemma, in dem sich der Staat heute in seiner Doppelrolle als Arbeitgeber und gleichzeitig Schlichter der Arbeitskonflikte befindet, ist das schwerste, das er in der Neuzeit zu lösen hatte. Dieses Dilemma gefährdet übrigens — wie am Rande bemerkt sei — die bedeutendste Errungenschaft des europäischen Sozialismus in seinem Kampfe um die Arbeiterrechte: das Streikrecht. War es dem Staate zuzumuten, daß er in einem Konflikt zwischen Kapital und Arbeiter objektiv und nüchtern urteilen werde, so ist diese Möglichkeit weitgehend beeinträchtigt, wenn er selbst finanziell und politisch von den Arbeitsniederlegungen betroffen wird, und wenn der Schaden nicht dem einzelnen Unternehmen, sondern der Staatskasse droht.

Das Kapitel der Verstaatlichungen zählt zu den peinlichsten Erfahrungen. Kein französischer Sozialist könnte heute weitere) Nationalisierungen fordern, ohne einem Lächeln der eigenen Kameraden zu begegnen. Denn die Verstaatlichungen haben nicht nur den Staat, an dessen Führung die Sozialisten beteiligt sind, vor eine schwierige Lage gestellt, sondern sie erwiesen sich auch wirtschaftlich als Verlustgeschäfte, und man weist mit dem Finger auf die wenigen besonders standfesten Betriebe hin, die selbst die Gewaltkur der Nationalisierung überstehen konnten.

Die Parteien des europäischen Sozialismus bilden heute längst keine homogenen Körper mehr. Wie in einem Parlament finden wir bei ihnen eine Rechte und eine Linke, finden wir Praktiker und Theoretiker. Die Bezeichnung „revolutionärer Sozialismus“ ist heute schon überholt; keine sozialistische Partei verdient

Ihn mehr. Wir finden auch eine weniger oder mehr strikte Treue zur Marxschen Terminologie und Dialektik. Eines der schwersten inneren Probleme der sozialistischen Parteien Europas ist es — mag auch dieses Problem bei den einen vielleicht nicht so akut aufscheinen als bei den anderen —, daß die Definitionen und Ausdrücke in den meisten Fällen Worte sind, die ihren wahren Inhalt im Laufe der Jahrzehnte verloren haben. Diese Worte werden trotzdem weiter verwendet, weil man die Tradition respektiert, und weil man ihnen eine gewisse mystisch-magische Wirkung zuspricht. Daß aber jede Wirkung auf die Zuhörer von dem Inhalt und nicht von den Prägungen allein verursacht wird, ist eine Erkenntnis, die für Sozialisten wie für NichtSozialisten gilt. Und die Sozialisten jener Schichten, die nicht die Redner, sondern die Zuhörer stellen, erklären, daß ihnen ein Abgehen von überalterten Terminologien nicht unlieb wäre.

Krisis der Macht, Krisis der veränderten wirtschaftlichen Lage, Krisis der Dialektik und der Parteidoktrin! Es muß jedoch gesagt werden, daß die Mehrzahl der sozialistischen Parteien ernste Anstrengungen unternommen hat, um eine Lösung zu finden. Sie blicken der neuen Lage offen in die Augen, und passen sich an. Oft opfern sie insgeheim die bedeutungslos gewordene Tradition, um unter den gegenwärtigen Umständen ihre Aufgabe: die Verteidigung des Arbeiters, durchzuführen. Sie entfernen sich dabei immer mehr vom ursprünglichen Ideal, von der primitiven Struktur, und leben sich dadurch mit den anderen sozialistischen Parteien auseinander. In diesem Vorgang verlieren sie ihre alten Eigenarten und nehmen einen neuen Charakter an. Vielen ist diese Wandlung nicht bewußt, den jüngeren Anhängern aber ist sie gewärtig. Nie werde ich ein Gespräch vergessen, das ich mit einem jungen Sozialisten über diese Probleme führte. Er sagte mir abschließend, er wäre mit der Partei trotz den Änderungen und Kompromissen zufrieden. „Nur eines kann ich ihr nicht verzeihen, daß sie sich sozialistisch nennt.“

Diese Anpassung, um den Folgen der dreifachen Krisis aus dem Wege zu gehen, kann allerdings ein Übel nicht beseitigen: die Rolle des Kommunismus als „marschierender Flügel der revolutionären Linken“. Der Kommunismus, der im Grunde genommen eine außerordentlich beständige Kraft in der Politik darstellt, indem er sein Fortbestehen unter Anwendung aller Mittel zu garantieren weiß — bekennt sich zur Revolution, durch die er die Macht erlangen will. Jede Propaganda der Gewaltsamkeit kann aber auf eine, Je nach den Umständen, größere oder kleinere Resonanz rechnen, ob sie nun von links oder von rechts her erfolgt. Er übt dadurch eine gewisse Anziehungskraft auf einen Teil der sozialistischen Anhänger aus, die sich in jüngster Vergangenheit in der Bildung von kommunizierenden sozialistischen Splitterparteien geoffenbart hat.

Der Kapitalismus, wie ihn Marx sah, ist dahingeschwunden und existiert nicht mehr. Seine neue Form, die wir etwa als einen wirtschaftlichen Neoliberalismus bezeichnen könnten, schöpfte unendlich viel aus dem sozialistischen Programm und verwirklichte Reformen, die von den Sozialisten verfochten wurden. Das geschah unter Einwirkung der Sozialisten einerseits und der Kirche andererseits. Der soziale Gedanke hat den engen Rahmen einer Partei durchbrochen und ist zum Allgemeingut geworden. Dafür ist die Menschheit auch den Sozialisten zum Dank verpflichtet. Allein, nun steht die zurückgebliebene Organisation vor einer strukturellen Krisis, die an sich eine Ähnlichkeit mit der strukturellen Krisis des Kapitalismus zu Marx' Zeiten aufweist.

Die Lösung für die Sozialisten liegt in einer Wandlung ihrer Ideologie und ihrer Anpassung an die geänderten Zeiten.

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