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Zwischen Marx und Praxis
Es gibt eine Flut von Einzeluntersuchungen über den Sozialismus, doch die Sisyphusarbeit seiner umfassenden Geschichte wurde so selten in Angriff genommen, daß die von Jacques Droz herausgegebene „Geschichte des Sozialismus“ fast allein auf weiter Flur dasteht. Das 1972 in Paris erschienene und nunmehr in deutscher Sprache auf neun Ullsteinbände gediehene Werk von sieben Autoren (neben Droz Francois Bedarida, Jean Bruhat, Jean/ Chesneaux, Claude Mossė, Annie Kriegei und Albert Soboul) dürfte längere Zeit das Standardwerk zum Thema bleiben.
Drei Bände behandeln den Sozialismus von den Anfängen bis 1875, und vor allem die - notwendigerweise! - weit ausholende Einbindung des sozialistischen Denkens und seiner Vorstufen in die Geschichte des politischen und sozialen Denkens ist Chesneaux und Mossė hervorragend gelungen. Die Bände 4 bis 8 referieren die Entwicklung des Sozialismus in den Ländern und Regionen, vier davon die sozialistischen Parteien Europas, einer den Sozialismus in Amerika, Asien und Afrika, letztere beide äußerst dünn - der indische Sozialismus hat es nicht verdient, mit ganzen vier Seiten abgetan zu werden. Band 9 behandelt dann wieder, geographisch ausgreifend, die Zweite Internationale und den Ersten Weltkrieg und der zehnte Band unter dem Titel „1919 bis 1945“ den „Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft der UdSSR“, sowie die Dritte Internationale. Wir werden diesen 10. Band gesondert besprechen, aber die Tatsache, daß der angebliche Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion hier einen so wichtigen Rang einnimmt, ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus der von den Autoren eingenommenen Perspektive.
Ihr gemeinsamer Nenner ist die Auffüllung des sozialdemokratischen Theoriedefizits aus dem marxistischen Fundus. Das Kompendium von Droz und seinen Mitarbeitern ist das vollständigste, faktenreichste, in der Faktizität auch fehlerloseste zugängliche Nachschlagewerk der Geschichte des Sozialismus, aber seine theoretische Position läßt das sozialistische Denken ungefragt und ungeprüft in Marx Höhepunkt und Vollendung finden; schon im Vorwort heißt es, nach dem wohlbekannten Kriterium, wonach Utopie und gut war, was zum Marxismus führte, Utopismus und schlecht aber, was nicht zum Marxismus führte: „Erst den beiden großen Geistern Marx und Engels gelang es, den Utopismus zu verlassen, zum Licht der Politischen Ökonomie vorzudringen und die Grundlagen eines wissenschaftlichen Sozialismus sichtbar zu machen.“
So müssen sich denn die vielen Sozialisten vor und seit Marx, die dessen hohen Kriterien nicht gerecht wurden, es gefallen lassen, an ebendiesen gemessen zu werden, kriegen ihre Zensuren ab, und wenn der Hegelsche Weltgeist, sprechend aus dem Munde von Ko-Au- tor Soboul, dem armen Necker dessen Versuche, den Weltuntergang durch Verbesserung der Welt hinauszuschieben, um die Ohren schlägt, dann liest sich das so: „Zu diesem Reformismus bekannte sich Necker auch, noch im Frühjahr 1789, als die Zeichen schon auf Sturm standen. Was daraus wurde, ist aus dem weiteren Verlauf der Geschichte bekannt.“ Aha, demnach waren also offenbar die Fürsprecher und nicht etwa die Verweigerer sozialer Reformen am Ausbruch der Französischen Revolution schuldig ...
Diese „Geschichte des Sozialismus" (die großartige Stellen enthält, beispielsweise die Seiten über Victor Adler) ist das logische Produkt des Versuches, das sozialdemokratische Theoriedefizit mit einem eleganten, runden Ding von einer Theorie zu füllen. Eine Geschichte des Sozialismus unter der Arbeitshypothese, ob nicht gerade das Theoriedefizit die Sozialdemokratie positiv vom Marxismus abhebt, wäre erst zu schreiben.
GESCHICHTE DES SOZIALISMUS - Band I bis IX, Ullstein-Verlag, Frankfurt-Berlin-Wien, 1976,1846 Seiten, öS 794,64.
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