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Buchstenogramm: Marxismus

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Nationalchinas Gegenposition

Literatur über die Geschichte des Maoismus und der chinesischen Revolution ohne Mao-Apologetik ist noch immer rar, Maos Erfolg bei der internationalen Durchsetzung seiner Selbstinterpretation nach wie vor ein höchst seltsames geistesgeschichtliches Phänomen. Äußerst wohltuend daher die leidenschaftslose Darstellung der nationalchinesischen Gegenposition. Gottfried-Karl Kindermann gibt in seinem Buch „Pekings chinesische Gegenspieler - Theorie und Praxis nationalchinesischen Widerstandes auf Taiwan“ nicht nur eine ausführliche Darstellung des politischen und sozialen Systems, das in Taiwan in Nachfolge Sun Yat-sens errichtet wurde, sondern auch eine Geschichte der getrennten Wege, welche die beiden Schüler Sun Yat-sens, Mao und Chiang Kai-shek, einschlugen. Leider fehlen Register, dafür gibt es ein langes Literaturverzeichnis und eine ausführliche, detailreiche Zeittafel der chinesischen Geschichte von 1839 ‘bis 1977, die sehr brauchbar ist. (Droste Verlag, Düsseldorf, 292 Seiten, öS 261,80.)

Bittere Lehre post festum

Ein Buch, dessen Argumentation das ideologische Fundament des Eurokommunismus gegenüber der Sowjetunion sicher verstärken wird, schrieb der amerikanische Spezialist für russische Geschichte an der Harvard-Universität, Richard Pipes: „Rußland vor der Revolution - Staat und Gesellschaft im Zarenreich“. Jeder weiß, wie sehr Marx Rußlands „asiatische Despotie“ verachtete und daß er den Gedanken, die Weltrevolution könnte von Rußland ausgehen, scharf zurückwies. Die Weltgeschichte hat ihm recht gegeben, Pipes aber ergänzt Marx’ eher improvisierte Äußerungen über Rußland mit dem Detail-, wissen des Historikers. Er schrieb ein faszinierendes Werk, nicht zuletzt kul- tur- und geistesgeschichtlichen Inhalts, aufgebaut auf der streng durchgehaltenen Argumentationskette, daß die russischen Fürsten die tatarische Despotie nachahmen und perfektionieren mußten, um Rußland von den Mongolen befreien zu können, und führt den Leser dicht an die einleuchtende Erkenntnis heran, daß sich dieser Vorgang wiederholt hat, als die Sowjetmacht sich mit zaristischen Mitteln festigte und diese dann nicht mehr loswurde oder los werden wollte. Ein Satz auf der vorletzten Seite wiegt einen ganzen Band „Gulag“ von Sol- schenizyn auf: Wie hier kurz und bündig erwähnt wird, machten schon lang vor ihrer Machtergreifung „Plecha- now und Lenin kein Hehl daraus, daß sie es für richtig hielten, ihre ideologi-

sehen Widersacher umbringen zu lassen“. (C. H. Beck Verlag, München, 353 Seiten, 24 Abbildungen auf 16 Tafeln, öS 261,80.)

Stalin in eurokommunistischer Sicht

An Radikalität der Kritik läßt die „Geschichte des ,Stalinismus’ “ von Jean Elleinstein, KPF-Mitglied, stellvertretender Leiter des Pariser „Centre d’Etudes et de Recherches Marxistes“ sowie Autor einer vierbändigen Geschichte der Sowjetunion, nichts zu wünschen übrig. Um so frappanter ist die Begrenztheit des Instrumentariums, mit dem das „sta- linsche Phänomen“ angegangen wird; gerade weil Elleinstein mit Stalin härter ins Gericht geht als jeder andere Noch-Kommunist vor ihm, muß die geradezu obsessive Ausklammerung aller nicht spezifisch russischen Entstehungsbedingungen des Stalinismus ernstgenommen werden. Per Saldo kritisiert nämlich Elleinstein nicht die Entwicklung, in deren Verlauf „die Partei“ mehr und mehr auf die überragende Führerpersönlichkeit hin konzipiert wurde, sondern denjenigen, der die Einladung verstand und annahm. So erscheint persönliche Macht als notwendig, persönlicher Machthunger eines Kommunisten aber als Betriebsunfall der Geschichte. Elleinstein sucht die Ursachen des Stalinismus nur in den historischen Bedingungen, unter denen der Sozialismus in der Sowjetunion aufgebaut wurde, nicht aber in der Natur des machthungrigen Menschen. Die These von Rosa Luxemburg, der „lebendige Quell“, aus dem heraus „alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können“, sei „das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen“, wird von Elleinstein für „zugleich richtig und falsch“ erklärt, denn ohne Einschränkung ja dazu zu sagen, käme einem rückhaltlosen Bekenntnis zur Demokratie gleich. Elleinstein gibt also Rosa Luxemburg insofern unrecht, als „ohne jene Diktatur die Revolution besiegt worden wäre“. Nun ist aber Geschichtsschreibung im Schoß der kommunistischen Parteien stets von programmatischer Bedeutung. Daran, daß ein-in freien Wahlen-siegreicher Eurokommunismus bereit wäre, sich- in freien Wahlen - auch wieder besiegen zu lassen und dem Untergang seiner Revolution zuzusehen, muß demnach, angesichts seines gegenwärtigen Bewußtseinsstandes, der sich nicht zuletzt in Elleinsteins Stalinismus-Buch ausdrückt, gezweifelt werden. (VSA - Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, West-Berlin, 228 Seiten, öS 129,40.)

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