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Brasilianische „Pfingsten“

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Der Generalsektetär der Kommunistischen Partei Brasiliens, Major Carlos P r e s t e s, hat es seit seiner Audienz im Kreml nicht leicht, seine Sturmscharen auf der Stelle treten zu lassen, sollte doch 1963 der Befreiungskampf beginnen. Der neuen internationalen Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus“ gewährte er eine Unterredung, aus der deutlicher als in den fünfundvierzig Parteizeitungen die innere Krise herauszulesen ist. Zuerst beschwört er die bekanntlich sehr kommunistenfreundliche Regierung J. Goularts, endlich das Verdikt über seine Partei aufzuheben. Seine tiefste Sorge wird mit wenigen Worten gestreift: „In unserer Eigenschaft als Marxisten-Leninisten führen wir einen Zweifronten-Kampf. Einmal gegen den Revisionismus und dann gegen den Dogmatismus, der unserer revolutionären Bewegung schon großen Abbruch getan hat und immer noch nicht ganz aus unseren Reihen entfernt werden konnte.“

Der „lahme Chruschtschow“

Wohin Prestes diese Beschwerde richtet, ist klar. Die nächtlichen Stimmen aus dem Äther, die chinesischen und die aus dem Sowjetblock, geistern

mit erschreckender Deutlichkeit und offenbaren den tiefen Bruderzwist im Lager des Weltkommunismus. Die alten Stalinisten in Lateinamerika gönnen dem „Abweicher“ Chruschtschow von Herzen diese chinesische Tortur. Von Linientreue ist keine Rede mehr. Könnte heute unter den Leninisten hier abgestimmt werden, würde sich die überwiegende Mehrheit auf die Seite Mao Tse-tungs als des Führers des Weltkommunismus stellen. Man hat hier das Gefühl, daß in allen zwanzig lateinamerikanischen Republiken Mao Tse-tungs Gestalt von Jahr zu Jahr wächst. In ihm sieht man den Garanten für den Sieg des Weltkommunismus, für die Befreiung aller Völker vom „kapitalistischen Imperialismus“, für den Untergang der westlichen Gesellschaftsform, und nicht in Nikita, dem „lahmen Koexistenzler“. In Brasilien zeichnete sich diese Vertrauenskrise schon bald nach Stalins Tod ab, jedenfalls schon vor 1960, als Chruschtschow seine Wirtschaftshilfe für China stoppte und seine 100.000 Techniker von heute auf morgen abberief. Er wähnte, seine Maßnahme würde den Unfehlbarkeitsanspruch des Kreml wiederherstellen, das Gegenteil war der Fall.

Front gegen die „Fidelisten“

„Es wäre verhängnisvoll, wenn die Kirchenleute“, so schreibt die „Folha“ in Sao Paulo, „sich der Hoffnung hingäben, aus diesem Zerwürfnis zu gewinnen.“ Das tun sie nicht. Von viel größerer Wichtigkeit ist es heute, dem Bundespräsidenten J. Goulart aus dem Fangnetz der Kommunisten zu helfen. Allzu überzeugt von seiner Pfiffigkeit glaubte er, die Kommunisten an die Zügel nehmen zu können, indem er ihnen einige Schlüsselstellungen überließ. Offenbar ist Goulart die Entstehung der „Volksdemokratien“ der

Ostblockstaaten unbekannt, oder er hat sie wie den Zwergsatelliten Kuba unter dem Stichwort „Selbstbestimmungsrecht“ registriert. Jedenfalls erkennt der Kundige leicht die Handschrift der alten Verschwörer in Goularts Feindseligkeit gegen das Parlament zugunsten der Gewerkschaften und in der Frage der Sozialisierung. In der Bodenreform scheint Goulart jetzt Front gegen die radikalen Enteigner machen zu wollen. Diese „Fidelisten“, deren Anführer Brizolä ein Verwandter des Präsidenten ist, vor kurzem noch

Staatsgouverneur von Rio Grande, als Schieber und Vagabund verschrien, peitschen die Massen auf zur Rebellion. Die bewaffneten Landarbeiter in

den Hungergebieten überfallen die Plantagen. Geld und Gewehre liefert Kuba, heute das größte Waffendepot Lateinamerikas.

Die christliche Revolution

Das Manifest der Bischöfe, Vor-

schläge zu dem großen Reformprogramm der Regierung, erregte die Wut der Radikalen von links und-von rechts. Die Konservativen reagieren auf solche Pillen in aller Welt gleich. Am heftigsten entlud sich der Hohn über die Partei, welche die sozialen Grundsätze der Päpste auf ihre Fahne geschrieben hat, die junge „Partido Democrata Cristao“ (P. D. C.) Sie veröffentlichte zu Pfingsten ihr Programm, unterzeichnet vom Präsidenten der Christlich-Demokratischen Partei Ney B r a g a, Staatsgouverneur von Paranä.

In einem Kulturkampf geboren unter ähnlichen Umständen, wie sie die christliche Bewegung in Deutschland zur Zeit Bismarcks ins Leben rief, bekennt sich die brasilianische P. D. C. „im Namen des christljjhen Gewissens als Partei der Nichtprivilegierten“, als „Bannerträgerin in dem historischen Prozeß der Befreiung des brasilianischen Volkes vom Feudalismus und dem Kolonialismus“, die soziale Umwälzung verteidigend, doch ohne Kommunismus.

Sie sieht als einzigen Weg des Überlebens der wahren Demokratie in Reformen, die die Ursache der Rückständigkeit, der Unwissenheit, des Hungers, der Krankheiten, des allgemeinen Elendes, das das brasilianische Volk zu Verzweiflung und Aufruhr treibt, zu beseitigen.

Den ungeheuren Anstrengungen des Weltkommunismus um die Seele der Lateinamerikaner ist dieses Notstandsprogramm der P. D. C. nur gewachsen, wenn es der Kirche hier endlich gelingt, sich von ihrem jahrhundertealten Bündnis mit „denen, die es haben“, zu lösen. Ein Anfang ist gemacht. Kuba wurde zum erschütternden Mahnmal. Welche Versäumnissei Wer begreift es

siebzig Jahre gebraucht hat, um in der Neuen Welt anzukommen. Aber die Rundschreiben Johannes XXIII. erreichten das Ohr auch der Arbeiter in den bolivianischen Zinngruben, der Gummizapfer am Amazonas, der Zuk-kerrohrschnitter im karibischen Raum.

Die Schlüsselstellung

In der Kundgebung der „Christlich-Demokratischen Partei“ fehlt ein Wort zur Reformation der Hohen Schule. Weiß man nicht, daß dort Stalins Agenten zuerst mit ihrer atheistischen Propaganda ansetzten? Sie hatten leichtes Spiel. Der ödeste Abguß des Materialismus, der Positivismus, hatte gute Vorarbeit geleistet. Warum hatte Moskau in der deutschen Ostzone solche Erfolge? Auf jenen Universitäten war der Materialismus lange vor Lenin hochgezüchtet, lange bevor er nach Rußland exportiert wurde, gedieh der Marxismus auf diesen Brutstätten. Man braucht nur in der Frühgeschichte der Sozialdemokratischen Partei blättern. Die Saat ging herrlich auf. Man lese das eben erschienene Buch von Erich Klausener: „Sie hassen Gott - Zur Methodik der kommunistischen Propaganda gegen Religion und Kirche in Mitteldeutschland“, und man hat einen Begriff von der satanischen Vergiftung der Glaubenswelt, wie sie jetzt, wenn auch in vorsichtigen Dosen, die Kommunisten in den lateinamerikanischen Ländern treiben. Dieser Nihilismus beherrscht heute die brasilianischen Linksradikalen völlig. Das Volk jedoch, von Natur aus religiös, ahnt schon lange den Wolf unter dem Schafspelz.

Bei Goulart wurden stärkere Register gezogen, die Dirigenten sitzen jetzt in der Sowjetbotschaft in Rio. Wehe dem Minister, dem es einfällt, aus der Linie zu tanzen, er verfällt unnachsichtig der Hetze der roten Gazetten. Die Kommunisten, d. h. die Gewerkschaften, brauchten nur mit dem Generalstreik zu drohen, und Goulart gab nach. Endlich scheint er (unter Nachhilfe des Heeres) seine Illusion erkannt zu haben.

„Die schwärzeste Seite der brasilianischen Geschichte ist noch nicht geschrieben.“ („Gazeta“, Sao Paulo).

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