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Der Sieg der Neuen Linken

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Im Hauptquartier saßen die neuen Herren und bemühten sich, es zu sein. Es war vier Uhr nachmittags.

Das Hauptquartier war ein nicht übermäßig großes vorstädtisches Siedlungshaus. Im zweiten Stock befand sich, mit raffinierter Un-auffälligkeit optisch und akustisch abgeschirmt, das Zimmer des russischen Beraters. Auf dem Dachboden hauste in einer ebenso sorgsam abgeschirmten Kammer der chinesische Berater. Er wußte von der Anwesenheit des russischen Beraters, dieser wußte aber nichts von der Anwesenheit des chinesischen Beraters. Bei ihm saßen die beiden prominenten Führer der Bewegung: St, der alte Student, und Pf, der exkommunizierte Pfarrer. Sie wollten im Gespräch mit dem chinesischen Berater klären, wie der Sieg zu feiern, spektakulär zu markieren sei.

„Sieg?“ sagte der chinesische Berater. „Es gibt keinen Sieg. Man kann andere Staaten besiegen, aber im Inneren gibt es keinen Sieg, nur Kampf.“ „Der Kampf ist aber zu Ende.“ Der chinesische Berater lächelte. „Der Kampf ist zu Ende? Ein Kampf im Innern ist nie zu Ende. Revolution ist keine Aktion, sondern ein Zustand. Wir bekämpfen den Klassenfeind am allen Fronten.“

„Und gesetzt den Fall, daß es keinen Klassenfeind mehr gibt?“ „Dann wird er in der eigenen Klasse gefunden. Dann ist jeder von Ihnen beiden der Klassenfeind des anderen und bekämpft ihn. Aber das hat noch Zeit. Vorläufig gibt es noch genug andere, die wir bekämpfen.“

Und er drohte im weiteren Verlauf des Gesprächs damit, der Bewegung 1 jede Unterstützung: Geldmittel, Waffen und ideologische Betreuung zu entziehen, falls nicht spätestens morgen die Aktionen mindestens ebenso intensiv weiterlaufen sollten wie in den letzten Wochen.

St und Pf verließen ihn tief verwirrt. Sie waren gewiß Revolutionäre, sie waren Kämpfer in der probaten Dosierung von Ideal und Ideologie, von Karl Marx und Karl May, sie waren überbeschäftigt mit dem Weg und sahen als Ziel nur das Ende des Weges, nicht den neuen Weg. Da sie aber am Ziel zu sein schienen, konnten sie nicht umhin, deutlich ein Ende zu setzen. Die Stellungnahme des chinesischen Beraters war unerwartet gekommen. Die Gedanken der Führer St und Pf galten, während sie vorsichtig die Bodentreppe abwärts kletterten, um sich zum russischen Berater zu begeben, der näheren und ferneren Zukunft dessen, was sie in die Welt gesetzt hatten.

Wie verhielten sich bei all dem die Arbeiter und die gewählten Männer ihres Vertrauens? Um dies zu begreifen, muß man wissen, daß sich in dem Land, von dem hier die Rede ist, etliche Zeit vorher die bis dahin überaus monolithische Kommunistische Partei in ihre Bestandteile aufgelöst hatte. Gruppen, Grüpp-chen und Cliquen befehdeten einander unerbittlich und waren damit so beschäftigt, daß sie selbst im Wirbel der ausgebrochenen Revolte als Bundesgenossen der Neuen Linken unerheblich waren. Außerhalb dieser Gruppen und Grüppchen und Cliquen aber existierte auch noch die recht bedeutende Gruppe der sogenannten Reformer. Diese Schar von enttäuschten, aber nicht entmutigten Gläubigen, denen es mit dem Schlagwort „Nicht den Menschen sozialisieren, sondern den Sozialismus humanisieren!“ sehr ernst war, weshalb Moskau sie scharf attackierte und nicht mehr subventionierte, verfügte über zahlreiche bestens geschulte, im Marxismus-Leninismus versierte, als Debattenredner ausgebildete Berufspolitiker.

Sie konnten die chaotische Turbulenz in ihrem Land nicht verhindern, wohl aber die Einbeziehung der Arbeiter. Eine Streikparole war nicht ausgegeben worden.

Die Neue Linke legte alles lahm, auch die großen Betriebe. Die Neue Linke brachte jedes Räderwerk durch den Sand der Diskussion zum Stehen, also auch die großen Industrien. In die Werkhallen drangen, wie überallhin, ihre Stoßtrupps, verhinderten, wie überall, den Fortgang des Sinnvollen und erzwangen Diskussionen.

In den Betrieben aber wie in den

Gewerkschaftsveranstaltungen, bei Wahlversammlungen, bei Sitzungen antworteten linke Ideologen den Ideologen der Neuen Linken, widersprachen den Marxisten die Marxisten auf gut marxistisch-leninistisch. Es war faszinierend, wie da wochenlang die unermüdlichen Debattenredner in Grund und Boden diskutiert wurden, von Geistern ihresgleichen, die einst gewesen waren wie sie, aber vor ihnen die Erfahrungen des Marxismus-Leninismus an der Macht voraus hatten.

Vom Sog der triumphalen Argumentation erfaßt, waren allmählich auch die Führer und höheren Funktionäre der Partei zu ihren Wählern gekommen; sie beteiligten sich mit zunehmender Überzeugungskraft an der Verteidigung des evolutionären Sozialismus.

Tag für Tag kehrte sich die Waffe der Diskussion gegen die Angreifer und brachte sie zu Fall. Sie zeigte, daß diese angeblich Neue Linke gegen die wirklich Neue Linke nicht mit Argumenten, sondern nur mit Gewalt erfolgreich zu operieren imstande war. Der Geist hatte eine große Schlacht gewonnen. Aber die Schlachten, die der Geist gewinnt, sind niemals unmittelbar politisch entscheidend. Gegen Hyänen und Schakale richtet mam mit den treffendsten Hegel-Zitaten nichts aus.

Der russische Berater hatte mit ganz konkreten Instruktionen aufzuwarten, als Pf und St ihren Lagebericht vortrugen. Eine markante Veranstaltung am Abend, um der Geschichte und Legende Stoff zu bieten, schien ihm unentbehrlich. Er umriß eine politische Kundgebung: Je ein oder zwei Vertreter der Regierung, der bewaffneten Macht, der politischen Parteien und der Gewerkschaften sollten sich zusammenfinden und mit den Führern der Neuen Linken zu einer provisorischen Regierung vereinigen. „Und das Parlament?“ fragte St. Der russische Berater lächelte zum erstenmal und verwies auf die Beispiele der Parlamentsausschaltung durch Lenin, Hitler und Mussolini.

St hatte plötzlich einen Einfall. „Für heute Abend“, sagte er, „ist ein Treffen in der Kongreßhalle angesetzt. Dort...“ „Meinetwegen Kongreßhalle“, unterbrach ihn der russische Berater ungeduldig, „das Allerwich-tigste — prägen Sie sich das vor allem ein: Die Machtübernahme erfolgt in letzter Minute, um einem drohenden Putsch von rechts zuvorzukommen.“ Nicht ohne Stolz wiesen Pf und St darauf hin, daß es die erste erfolgreich abgeschlossene Aktion der Neuen Linken gewesen sei, die faschistisch-nationalistisch-gegenrevolutionär gesinnten Gruppen und Personen radikal auszuschalten.

„Aber wir brauchen eine Gefahr von rechts. Nehmen Sie sie her, wo Sie sie finden. Wenn nötig, findet heute noch ein Attentat auf einen Ihrer Prominenten statt — Sie dürfen sich aussuchen, auf wen, und auch, ob die Kugel ihn verfehlt, streift oder tötet. Aber wir brauchen das. In diesem Punkt sind meine Instruktionen bindend.“ (Fortsetzung folgt)

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