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Krise der Linken

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Man reibt sich die Augen und kann es noch immer kaum glauben: Die kommunistische Partei Ungarns löst sich friedlich auf, geht in eine sozialistisch-sozialdemokratische über, und in Ostberlin rufen verzweifelte DDR-Bürger den Großen Bruder „Gorbi“ gegen den Altersstarrsinn der eigenen Genossenführung zu Hilfe. Löst sich der fast ein halbes Jahrhundert die Weltpolitik überschattende Ost-West-Konflikt in Staubwolken au/?

Vor übereiltem Triumphgeschrei ist sicher zu warnen, auch vor eindimensionalem Entwicklungsoptimismus. Noch ist das Ringenum Selbsterneuerung des „realen Sozialismus“ längst nicht abgeschlossen. Niemand kann ausschließen, daß das Rückzugsgefecht der Reaktion in blutige Verzweiflungstaten mündet. Und nur Narren im Westen können solche wünschen.

Aber selbst dieser Fall könnte nichts mehr an der Tatsache ändern, daß der reale Marxismus am Ende ist: nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern als Ganzes. Hermann Lübbe hat mit Recht einen „Legitimitätszerfall der sozialistischen Ordnung“ diagnostiziert.

Selbst naiv-idealistischen Intellektuellen bleibt derzeit nichts als Zynismus - etwa Wolf Biermann: „Da es in der Sowjetunion nie einen Sozialismus gab, konnte der auch nicht besiegt werden.“ Und Elfriede Jelinek: „Mit der Weltmacht Nr. 1, der Bundesrepublik Deutschland, wird zuerst der Kapitalismus weltweit siegen. Dann erst wird der Sozialismus kommen können.“

Die Frage ist nur, ob dann noch jemand definieren kann, was Sozialismus ist. Viele Alt-,Ex- und Noch-Kommuni-sten Osteuropas mögen wieder einmal von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ träumen. In Ungarn sprechen sie den Traum auch aus. Wird die neue Epoche eine Ära des demokratischen Sozialismus, der Sozialdemokratie, sein?

Wenig deutet im Westen daraufhin. Nirgendwo hat sich die demokratische Linke bisher von ihren historischen Tiefständen erholt. Ein paar Beispiele: In der Bundesrepublik Deutschland hielten die Sozialdemokraten 1972 bei ihrem Beststand von 46 Prozent der Wählerstimmen - 1987 waren es nur noch 37 Prozent.

Andere Länderwerte: Frankreich 38% 1981, 35% 1988; Dänemark 38% 1979, 30% 1988; Großbritannien 49% 1951, 31% 1987; Schweden 50% 1968, 43% 1988; Spanien 49% 1982, 44% 1986; Holland 34% 1977, 31% 1989; Norwegen 46% 1969, 34% 1989. In Österreich erreichte die SPÖ ihr Hoch 1975 und 1979 mit 51% und fiel 1986 auf 43% zurück.

Die Legitimitätskrise hat auch die westliche Sozialdemokratie eingeholt.

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