6807183-1972_14_07.jpg
Digital In Arbeit

„Gewisse Parteien führen eine Gewaltpolitik“

19451960198020002020

Roger Garaudy, der wohl bedeutendste, aber 1970 aus der französischen KP ausgeschlossene Theoretiker der Linken in Westeuropa, hat kürzlich der jugoslawischen Zeitschrift „Internationale Politik“ ein Interview gegeben, in dem es ihm um neue Thesen für den Sozialismus geht.

19451960198020002020

Roger Garaudy, der wohl bedeutendste, aber 1970 aus der französischen KP ausgeschlossene Theoretiker der Linken in Westeuropa, hat kürzlich der jugoslawischen Zeitschrift „Internationale Politik“ ein Interview gegeben, in dem es ihm um neue Thesen für den Sozialismus geht.

Werbung
Werbung
Werbung

FRAGE: Es ist Ihnen, Herr Professor, jedenfalls bekannt, daß Ihr Buch „Der große Wendepunkt im Sozialismus“ nicht geringes Interesse hervorgerufen hat. Wir möchten Sie bitten, uns zu sagen, inwieweit Ihre schöpferische Initiative durch die Ereignisse in der „europäischen Linken“ unserer Gegenwart inspiriert ist und inwieweit durch die weitreichenden Erkenntnisse über diesen Augenblick objektiven Verfalls der petrifizierten, „staatlichen“, pragmatisch gefärbten Mißbräuche des marxistisch-leninistischen Gedankens?

GARAUDY: Wenn es sich um die Suche nach einem Modell des Sozialismus handelt, das Frankreich und der gegenwärtigen Entwicklungsphase von Wissenschaft und Technik am besten entspräche, dann meine ich, daß es zur Erörterung dieses Problems nicht genügt, es bloß in der Einflußsphäre der europäischen Linken, des einen oder anderen Aspektes der Sklerose des Marxismus zu formulieren.

Meiner Meinung nach besteht das Problem eben darin, daß nicht von irgendeiner determinierten Ideologie ausgegangen wird, sondern von einer Lage, in der man zu analysieren versucht, welche die neuen Kontradiktionen sind, die heute im Kapitalismus auftreten, welche Kontradiktionen (von jenen alten, die schon Marx und Lenin analysiert haben) sich erhalten haben, um sonach, hiervon ausgehend, nach eingehender Erwägung festzustellen, wie der Sozialismus für ein hochentwik-keltes Land beschaffen sein sollte.

Und eben darum habe ich über das jugoslawische Beispiel viel nachgedacht: es war der erste Versuch, dem stalinistischen Modell des Sozialismus auszuweichen, und deshalb können wir aus dieser Erfahrung unter Berücksichtigung zweier fundamentaler Unterschiede viel lernen.

Der erste Unterschied besteht darin, daß bei uns in Frankreich das Problem der Vielnationalität in Wegfall kommt.

Zweitens müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, daß wir es bei uns mit einem Land zu tun haben, das einerseits nicht mit dem Handikap der Unterentwicklung zu kämpfen hat und außerdem eine zahlreiche und gebildete Arbeiterklasse und die Tradition einer bourgeoisen Demokratie besitzt, wie sie der Hauptsache nach in den Ländern Osteuropas, wo mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen wurde, nicht bestanden hat. Wir verfügen also hier über günstige Elemente, und wenn ich nicht davor zurückscheue, ein Paradoxon auszusprechen, möchte ich sagen, daß das Selbstverwaltungsmodell für unsere Verhältnisse geeigneter wäre als es für Ihre ist. Mir will es scheinen, als verdiente Jugoslawien Anerkennung dafür, daß es die Kraft aufbrachte, mit der Entwicklung der Selbstverwaltung unter den schwersten Bedingungen zu beginnen, während es unsere Verhältnisse in Frankreich ermöglichen, schon von allem Anfang an einigen dieser Schwierigkeiten auszuweichen.

FRAGE: Wir erinnern an die Diskussion in der KP Italiens, an die Überlegungen von Pajeta, Bofo, Berlinguer, Ingaro, daß die Arbeiterbewegung in der Welt mehr und mehr mit Diplomatie, Politik, Taktik, Formalismus, pragmatisch-utilitärer Kombinatorik, mit Anforderungen des Augenblicks belastet wird... In welchem Maße belastet nun diese praktische Kombinatorik, wie wir sie nennen möchten, die theoretischen Bemühungen um die Suche nach Beantwortung der

GARAUDY: Es ist Tatsache, daß in der Arbeiterbewegung eine der großen Schwierigkeiten dadurch verursacht wird, daß gewisse an der Macht befindliche Parteien eine auf Gewalt gegründete Politik führen und nicht eine auf Prinzipien gegründete. Und es ist unbestreitbar, daß dies große Schwierigkeiten im Bereich des Theoretischen verursacht hat.

Meiner Meinung folgend, möchte ich — da ich nicht wünsche, mich in eine Polemik einzulassen, und ganz besonders nicht mit der Sowjetunion, da dies nur dem Antisowjetismus und Anti-kommunismus Nahrung geben und damit dem Imperialismus und der Reaktion nützen würde — bemüht bleiben, auch hier bei meinen theoretischen Forschungen von dem Grundsatz auszugehen, daß das sozialistische Modell, das einer hochentwickelten Gesellschaft entspräche, ein Modell ist, das wir erst schaffen müssen. Daß nämlich jedweder Import eines Modells auf Grund der schon bestehenden Modelle unmöglich ist. Mit anderen Worten: es erscheint mir außerordentlich wichtig, daß in den Beziehungen zwischen den Staaten, nicht nur zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen, sondern auch zwischen den sozialistischen Ländern, als Grundprinzip in ihren Beziehungen das Prinzip der friedliebenden Koexistenz akzeptiert wird und auf diese Weise jede Partei und jedes Land den Sozialismus, entsprechend den Erfordernissen seiner Entwicklung und seiner Struktur ausbauen kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung