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Ein Sonderfall im Ostblock

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Rein äußerlich bot der in der vergangenen Woche zu Ende gegangene Parteitag der ungarischen Kommunisten das sattsam bekannte Ritual solcher Veranstaltungen: Jubel für den Parteichef, der wiederum den Delegierten applaudiert, perfekte Regie und „Demokratie" (nie gibt es eine Gegenstimme), Beweihräucherung, viel Phrasen, Selbstkritik und „vollkommene Zustimmung" zum Ergebnis.

Doch der Parteikongreß der ungarischen KP vom 24. bis 28. 3. unterschied sich doch von Parteitagen anderer kommunistischer Staaten und zeigte auf, daß es den Magyaren tatsächlich gelungen ist, einen im Inneren relativ unabhängigen „Weg zum Sozialismus" zu beschreiten.

Die inhaltliche Gewichtung und Schwerpunktsetzung der Parteitagsbeschlüsse war eindeutig:

I. Bestätigung und Beibehaltung der bisherigen „politischen Generallinie". Sie läßt sich vereinfacht so definieren, daß sich Ungarn durch außenpolitische Gefolgstreue gegenüber Moskau den Freiheitsraum für seine Vorstellungen von „Sozialismus" sichert. Dies geht auch ganz klar aus den Parteitagsbeschlüssen hervor, wo die Außenpolitik zum Hilfsmittel stilisiert wird, um „sozialistische Aufbauarbeit" im Inneren leisten zu können. Von den 95 Seiten seiner Rede widmete Parteichef Janos Kadar ganze neun der Außenpolitik.

2. Absicherung und Bewahrung des bisher auf den Gebieten der. Produktion, des Außenhandels und des Lebensstandards Erreichten - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ehrlicher und realistischer als auf anderen kommunistischen Parteitagen üblich wurde in Budapest kein zukünftiges Schlaraffenland, sondern harte Arbeit und „Gürtel enger schnallen" verkündet.

3. Weitere Ausprägung der „sozialistischen Wesenszüge" der ungarischen Gesellschaft. Das heißt, daß Ungarn weiterhin seine politische Arbeit auf den Prinzipien des Marxismus-Leninismus gründet und einen konsequenten Zweifrontenkampf gegen „subjektivi-stische, sektiererische und dogmatische Politik" einerseits und gegen „revisionistische" und unter dem „Vorwand einer Modernisierung des Marxismus propagierte" Ansichten andererseits führt.

Allerdings hat Parteichef Janos Kadar noch einmal deutlich die Besonderheit seiner Konzeption „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns" unterstrichen, als er in den Parteitagsdirektiven folgenden Passus verankern ließ:

„Unsere gemeinsamen Ziele werden durch den Zusammenschluß der Werktätigen aller Klassen und Schichten, der Parteimitglieder und der Parteilosen, der Marxisten und der Menschen mit einer anderen Weltanschauung, der Atheisten und der religiösen Menschen realisiert." Weder theoretisch noch in der Praxis ist in Ungarn von einer „Diktatur des Proletariats" die Rede. Unverändert bleibt freilich der Führungsanspruch der KP.

Wie national eigenständig sich der „real existierende Sozialismus" im Pußta-Land entwickelt hat, belegen auch viele Maßnahmen in der und Äußerungen zur Wirtschaftspolitik.

• Die Inflation, von der Theorie her dem kommunistischen Wirtschaftsmodell fremd und, wenn zugegeben, als von „äußeren Wirtschaftsfaktoren importierte Erscheinung" klassifiziert, wird in Ungarn ganz offen eingestanden.

• Radikal anders als in anderen Oststaaten auch all das, was mit dem

Problem des Arbeitsmarktes zusammenhängt. Undenkbar, daß in anderen „Bruderstaaten" (mit Ausnahme Polens, wo es vor einiger Zeit in dieser Richtung einen Versuchsballon gab) auf einem Parteitag folgendes zu hören wäre:

„Die anhaltend unrentable Produktion muß rentabel gestaltet oder eingestellt werden." So Kadar vor dem Parteitag. Auf der Ebene der Massenmedien wird das noch offener ausgedrückt. Das Partei-Organ „Esti Hirlap":

„Niemand, kein Betrieb, der nicht effektiv arbeitet, verdient einen Rettungsring." Radio Budapest brachte sogar Berichte über die „sich verbreitende Ansicht", daß ein wenig Arbeitslosigkeit gar nicht so schlecht sei: Ohnehin läge die Zahl der unproduktiven Arbeiter in Ungarn viereinhalbmal so hoch wie in kapitalistischen Ländern.

Das einst von Kommunisten so verteufelte „Wolfsgesetz des Kapitalismus", wonach schwache und unproduktive Betriebe untergehen, scheint für Ungarn keine Schrecken mehr zu bieten.

• Das ganze wirtschaftliche System Ungarns, wie es seit 1968 schrittweise entwickelt wurde, spitzt sich immer mehr auf eine leistungsorientierte Marktwirtschaft mit „sozialistischem" Uberbau zu. Kadar: „Wir müssen uns entschieden gegen die beliebte Auffassung und bequeme Praxis der Gleichmacherei wenden."

• Was außenpolitisch aus einsichtigen Gründen und bitteren historischen Erfahrungen nicht möglich ist, sucht Ungarn auf wirtschaftlichem Gebiet zu erreichen nämlich echte nationale Souveränität. Es ließ aufhorchen, daß Kadar in seiner Parteitagsrede nur von der „grundsätzlichen" Bereitschaft Ungarns sprach, für die Weiterentwicklung und Vervollkommnung der östlichen Wirtschaftsgemeinschaft COME-CON zu arbeiten, aber sehr deutlich sagte, daß auch in Zukunft die Wirtschaftsbeziehungen mit den kapitalistischen Ländern „auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils und der Gleichberechtigung" wachsen sollen.

Ungarn ist, auch wenn nun die internationale Lage verschlechtert ist und die Wirtschaftsaussichten für das Land nicht rosig sind, ein „Sonderfall" im Ostblock und wird es wohl auch bleiben.

Es ist kein Zufall, daß es im Magyarenland so gut wie kein Dissidentenproblem und keine politischen Gefangenen gibt.

Es ist kein Zufall, daß der Gewerkschaftschef Sandor Gaspar auf dem Parteitag die Rolle seiner Institution nicht mehr darin sieht, „Transmissionsriemen der Macht" zu sein, sondern in der „Vertretung und des Schutzes von Interessen".

Es ist kein Zufall, daß penetrantes Bonzentum und Nepotismus der KP-Nomenklatura in Ungarn so gut wie unbekannt sind.

Etwas überspitzt - wie es Witze immer tun - könnte man gerade am Beispiel Ungarns (mit Einschränkungen) wirklich fragen: Was ist Sozialismus? Antwort: „Der komplizierteste Weg zu einem gerechten Kapitalismus."

Nicht außer acht lassen freilich sollte man, daß der „Sonderfall" Ungarn durch den „Sonderfall Kadar" möglich wurde - einem Mann, dem die Sowjets vertrauen.

„Alle reden über die Nachfolge Titos", murrt ein Intellektueller in Budapest, „aber niemand macht sich Sorgen über die Nachfolge Kadars. Das wird heikler und schlimmer ..."

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