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Kleine Freiheiten statt Befreiung

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Im Radio klingen die Stimmen von einst: Mit Hilfe von Tondokumenten aus der Zeit des Volksaufstandes versucht das Regime in Budapest derzeit die Ereignisse von 1956 verständlich zu machen. In den Zeitungen, allen voran im Parteiorgan „Nepszaabasdag", ergießen sich über viele Spalten und seit Wochen ebenfalls „ausgewählte" Dokumente über das, „was wir wohl für immer und ewig Konterrevolution nennen werden." (So ZK-Mitglied und stellvertretender Chefredakteur des Parteiorgans, Peter Renyi, bei einer Pressekonferenz in Wien).

In Partei-Versammlungen und auch in den gesellschaftlichen

Massenorganisationen wird ebenfalls seit Wochen das „heiße" Thema aufzuarbeiten versucht.

Grundmotiv all dieser sorgfältigen Bemühungen: Der jungen, fast völlig apolitischen Generation, ein der Partei richtig erscheinendes Bild der Ereignisse zu vermitteln („wir haben nichts zu verschweigen") und gleichzeitig zu zeigen, daß die Magyaren einen „Ausweg" aus der Krise von damals gefunden haben, der für die Bevölkerung und das Land akzeptabel ist.

Die Art und Weise, wie das Regime in Budapest das lange totgeschwiegene und weitgehend ta-buisierte Thema anpackt, ist selbst wiederum ein Beweis für die politische Klugheit und den „ungarischen Ausweg", der nach 1956 gefunden wurde.

Geduldig, propagandistisch und ideologisch bestens vorbereitet, den außenpolitischen Rahmen nicht überschreitend, Stimmungen und Strömungen in der Bevölkerung Rechnung tragend und sanft kanalisierend pragmatisch — so hat sich Ungarn ja in den vergangenen 25 Jahren aus der blutigen Tragödie heraus-und in eine kleine Freiheiten gewährende Volksdemokratie hineinmanövriert.

Wie war das möglich, wie konnte Ungarn nach diesem Desaster sich in die komfortabelste und lustigste Baracke im sozialistischen Lager verwandeln?

„Wir haben in den vergangenen 25 Jahren bei allen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen - entweder öffentlich ausgesprochen oder insgeheim gedacht - die Lehren von 1956 vor Augen gehabt", formuliert Peter Renyi.

Tatsächlich läßt sich das bis auf den heutigen Tag nachweisen. Einer der Gründe, die zum Oktober/ November 1956 führten, war die „ungeheure Deformation in der Partei" (Renyi) in der stalinistischen Epoche Rakosis.

Kadar hat mit dem Personenkult endgültig Schluß gemacht. Und was in anderen Ostblockländern gang und gäbe ist, nämlich Korruption, Nepotismus und Privilegiert der Parteibonzen, trifft für Kadar persönlich gar nicht und für die Mehrzahl der Appa-ratschiks in Partei und Regierung ebenfalls nicht zu. Die Lehre von 1956 wirkt hier nach…

Den ungarischen Weg seit 1956 kennzeichnet auch aus, daß dem Versuch der Uberzeugung der Bevölkerung der absolute Vorrang gegenüber der Gewalt und dem oktroyierenden Dekret eingeräumt wurde.

Daß dies im großen und ganzen erfolgreich verlaufen ist, hat seinen Grund in der von Kadar formulierten Bündnispolitik, die berühmt geworden ist: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns."

Das hat praktische Auswirkungen gehabt, etwa dadurch, daß ab Mitte der 60er Jahre immer mehr Nichtkommunisten, Pragmatiker und Experten, auf hohe Posten in Verwaltung und Wirtschaft berufen worden sind.

Auch das alles eine deutliche Abkehr von den Zuständen vor 1956, auch das eine Lehre der blutigen Ereignisse.

Die politischen Verhältnisse, die zu dem Volksaufstand führten, waren durch einen sturen und dogmatischen Marxismus-Leninismus gekennzeichnet, der die gesellschaftlichen Widersprüche und ökonomischen Ungleichgewichte durch Ideologie zu negieren versuchte.

Auch daraus haben Kadar und seine Mannschaft nach 1956 die Lehre gezogen. Im roten Magyarenland wird wohl heute der pragmatischste Kommunismus betrieben, der sich derzeit denken läßt. Aus vielen Entscheidungen der letzten 25 Jahren läßt sich dies nachweisen.

• Der Parteitag von 1962 formulierte etwa: „Es ist nicht mehr notwendig, die studierende Jugend nach Abstammung und Klassenzugehörigkeit zu katego-risieren.

• Die am I.November 1968 eingeführte Wirtschaftsreform, die — mit Veränderungen — im Prinzip bis heute gültig ist, liefert das bisher eindringlichste Beispiel einer „stillen Revolution."

Aych auf dem Gebiet der Ideologie, Kultur, des „Klimas" für die Intelligenz, hat man die Lehren aus 1956 gezogen. Diese breite und potentiell gefährliche Gegnerschaft einer Intelligenzschicht — in ihr begann der auslösende Funke für die Tragödie von damals zu glimmen — konnten Kadar und sein „liberaler" ZK-Sekretär für diesen Bereich, György Aczel, auf ein Mindestmaß reduzieren.

Die relativ liberale Kultur- und Intelligenzpolitik heißt nun nicht etwa, daß es keine Zensur, kein Gängelband der Partei, keine Schreibverbote in Ungarn gäbe. Dennoch fehlt eine aufrührerische Dissidenz, gibt es keine politischen Häftlinge in nennenswertem Ausmaß.

Vor allem aber hat Ungarn durch die blutige Tragödie von 1956, die für uns im Westen wohl immer ein „Volks- und Freiheitsaufstand" und nicht eine „Konterrevolution" bleiben wird, die entscheidende außenpolitische Lehre gezogen:

Nur in absoluter und glaubwürdiger Nibelungentreue zu Moskau und dem Warschauer Pakt kann der innenpolitische Spielraum geschaffen werden, der den eigenen ungarischen Weg — wenn man will „Ausweg" - garantiert. Kadar darf für sich beanspruchen, der „Weltmeister" dieses Balance-Aktes zu sein.

Das Budapester Regime ist ungeachtet all seiner unleugbaren innerpolitischen, außerpoiiti-schen und vor allem wirtschaftlichen Erfolge dennoch nicht rein von Widersprüchen. Um es mit Kadar auszudrücken: „Auch bei uns sind die Zäune nicht aus Würsten."

Trotz marktwirtschaftlicher Mechanismen gibt es weiterhin die Unsinnigkeiten planwirtschaftlicher Entscheidungen, gibt es eine politische Polizei, stößt man immer wieder an vielfältige Grenzen und Begrenzungen. Der entscheidende Unterschied — und die bittere Lektion von 1956 hat die Machthaber in Ungarn zu dieser Erkenntnis geführt - ist nur, daß man mit diesen Widersprüchen lebt und sie zur Kenntnis nimmt, politologisch und soziologisch zumindest richtig deutet:

„In Wirklichkeit wird doch eine Gesellschaft nicht durch die Existenz von Widersprüchen an sich gekennzeichnet, sondern dadurch, wie die Widersprüche beschaffen sind und in welchem Maße die Gesellschaft imstande ist, sie aufzudecken und zu lösen. Denn Widersprüche sind die Triebkräfte der Geschichte, sind Elemente jeglicher Entwicklung", meinte 1977 ZK-Sekretär Aczel.

Kleine Freiheiten statt der großen — das hat Ungarn seit 1956 zweifelsohne erreicht.

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