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Windrad oder Wegweiser?

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In den Beiträgen zum Stichwort „Ideologie“ finden sich Verstand und Mißverstand zuhauf. Den Schlüssel zu dem Irrgarten der Ideologiediskussion scheint ein Satz zu bieten: „... gewiß ist von größerer Bedeutung und sittlich mehr entscheidend, daß die .Wahrheit der Seele* praktiziert wird, als daß man sich einwandfreier Sprachsymbole bedient“ (Friedrich G. Kuhn, Rückfall in alte Irrtümer).

Klassischer Demokratiebegriff und sonst nichts? Max Adler hat über politische und soziale Demokratie gelesen. Nach der politischen gehe es erst recht um die soziale Demokratie. Denn die politische erlaube arm und reich, unter der Brücke zu schlafen. Vom sozialen Recht aber kündet das Evangelium der Kindschaft Gottes.

Konservatives Denken aus christlicher Schau erhebt Anspruch auf höchste Werte und reklamiert seine Legitimation aus dem „ganz anderen“ transzendenten Absolutum. Doch bei aller „übernatürlichen“ Bezogenheit vermag es sich von dem verengenden Interesse an eine sehr natürliche Unrechtsordnung nicht zu lösen, eine tragische Selbsttäuschung über ein Wirtschaftsmonstrum, in dem von den Vielen nur produziert wird, wenn die Wenigen verdienen.

Diese herzlose Busineß-Welt, die über Leichen geht, soll der Weisheit letzter Schluß sein? Sie wird mit allen Mitteln verteidigt, als ginge es um die ewige Seligkeit. Es ist aber die fatale Wirtschaft der periodischen Krisen, der Arbeitslosigkeit und Not, der Kriege und Katastrophen, ein teuflisches System mit einem Herzen aus Stein.

Weil immer mehr Menschen diese Katastrophenordnung als Unglück betrachten, deshalb sind sie Sozialisten. Weil sie die Menschenwürde hochhal- ten, deshalb sind sie Demokraten. Sie bemühen sich um die allmähliche Umwandlung aus dem profitgeleiteten Wirtschaftssystem in eine Gemeinschaft mit solidarischer Produktion für alle Erdenkinder. Wenn nur vernünftige Notwendigkeiten erzeugt werden, dann wird die Arbeitszeit immer kürzer.

Das Herumrätseln um die Art der Demokratie der Sozialisten ist müßig, denn ihr Programm kündet seit Anfang die Überwindung des unmenschlichen Profitsystems. Daher sind die Sozialisten der Meinung, daß sie mit den Christen, die sie selber sind, ein großes Stück des Weges gemeinsam gehen werden. Der Marxismus aber ist keine Religion und keine Philosophie, er ist die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Karl Marx entdeckte in der sozialen Natur eherne Bewegungsgesetze. So hat sich die alte Sklavenordnung zur Feudalherrschaft und diese zur bürgerlichen Industriegesellschaft gewandelt.

Die verrückte spätkapitalistische Vergeudungswirtschaft aber wird erst dann endgültig verschwinden, wenn unser Profitsystem überwunden sein wird und die Menschen in einer klassenlosen Ordnung inmitten einer übersprudelnden Produktion ebenso mit allen Gütern des materiellen und geistigen Lebens versorgt sein wer den, wie mit Luft, Wasser und Sonnenlicht. Dann wird nach Marxens Worten die Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen sein, bis sich alles „um die Sonne der Arbeit dreht“.

Viele Menschen haben den engen Horizont der Kapitalismusgläubigkeit durchbrochen und ihre ganze Hoffnung auf eine Gemeinschaftsgestaltung gerichtet, von welcher der Prophet Jesąja sagt: „Es sollen nicht mehr Kinder da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht mehr erfüllen. - Sie wollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. - Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird, noch sie zu Herzen nehmen.“

Als Christen stehen wir Sozialisten ebenso zum allerhöchsten Appellationsgericht Als Sozialisten begnügen wir uns aber nicht mit dem billigen Bekenntnis, sondern halten es mit Jesaja und Marx, den Sehern einer menschenwürdigen Welt nach Gottes Ebenbild. Der „blanke Unsinn“ aber, von Friedrich G. Kuhn angeleuchtet, geht im blauen Dunst auf.

Demokratischer Sozialismus, bitte - aber das Endziel? „Die Unterschiede zwischen Sozialismus und dem Kommunismus liegen hauptsächlich in den Mitteln, nicht in den Zielen“ (Andreas Khol, Ist Sozialismus vollendete Demokratie?). Wie fruchtbar sind diese?

Die schaffende Menschheit wächst immer bewußter in den Wirtschaftsprozeß hinein. Schulen, Familien und Kirchen sind berufen, im Zeichen friedlicher Verständigung und solidarischer Gemeinschaftsideen zu wirken. Mit der Wandlung des sozialen Lebens wird sich auch das Bewußtsein der Menschen in Verhaltensweisen und Motivationen zu selbstloser Zusammenarbeit wandeln in einer Welt ohne Hektik und Erzeugungswahn, ein generationenweiter Prozeß. Die wahre Gemeinschaft wird so allmählich vom Traum zur Wirklichkeit Soweit es den demokratischen Sozialismus betrifft, wird es nie einen Abbruch am demokratischen Kräftespiel geben. Der praktizierte Kommunismus in den Terrorstaaten aber ist kein Sozialismus im Marx’schen Sinne, er ist seine widerliche Verzerrung. Sozialismus ist Planung und Freiheit. Marx, der vor mehr als hundert Jahren die Menschen ihr Sein in ständiger Veränderung verstehen gelehrt hat, sah eine „neue Erde“ gleich dem Propheten: „An Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Verstand und Gemüt, Herz und Seele, wissenschaftliche Erkenntnis und prophetische Weissagung wandeln auf verschiedenen Wegen, doch zum gleichen Ziel. Gemeinsames Streben, gemeinnütziges Handeln, selbstloses Opfern, demnach echte Humanität, wahre Religion und demokratischer Sozialismus sind verschiedene Leitsterne ein und derselben Aufgabe.

Ihrer natürlichen Bestimmung gemäß werden sich die Menschen einen immer größeren Freiheitsraum schaffen und ihrer Demokratie jenen Namen geben, der ihnen recht erscheint, christliche Gemeinschaft, Sozialismus oder noch anders. Woher sie die neuen Motivationen nehmen, ist unwichtig. Entscheidend ist, wie es im Zitat heißt, die Praxis der „Wahrheit der Seele“ und die Früchte daraus. Denn nicht, was die Menschen reden, ist bedeutsam, sondern - was sie tun (Zitat von Friedrich Kuhn).

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