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DER ENTWURF

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Der Sozialismus erstrebt eine bessere und gerechtere Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft, als sie der Kapitalismus zu bieten vermag; sein Anliegen ist daher von dieser Welt, so daß er in diesem Sinne keine Weltanschauung darstellt. Er will seine Aufgabe mit wissenschaftlichen und politischen Methoden lösen und appelliert an den Verstand und die Ueberlegung der Menschen; er ist und will nicht eine Religion oder ein Religionsersatz sein, der seine Anhänger durch gläubigen Gehorsam zu gewinnen sucht.

Alle gesellschaftlichen Bindungen des Menschen sind durch Sitte und Moral bestimmt. Da der Sozialismus eine neue Gesellschaft formen will, kann er Fragen der Moral und Ethik nicht gleichgültig gegenüberstehen. Jede der großen Weltreligionen ist untrennbar mit einem umfassenden Sittenkodex verknüpft; überdies greifen sie durch ihre Vorschriften in das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben ein. Daraus ergeben sich zwischen dem Sozialismus und den religiösen Organisationen Berührungs-, unter Umständen auch Streitpunkte, die es zu regeln gilt.

Der Sozialismus erstrebt eine Gesellschaft freier und gleichberechtigter Menschen. Um sie herbeizuführen, können die sozialistischen Parteien nur mit Anhängern von Weltanschauungen und ■Religionen zusammenwirken, die sich nicht bloß theoretisch zu den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit bekennen, sondern sie auch in ihrer Praxis anwenden. Der Sozialismus lehnt jedes Vorrecht und feden Anspruch auf ein solches ab, gleichgültig, aus welchem Grund es abgeleitet wird — aus dem Besitz oder der Gebart, der Rasse, der politischen Stellung oder der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, Der Sozialismus übt allen Weltanschauungen und Religionen gegenüber, die sich zu diesen Grundsätzen bekennen, vollständige Toleranz, in der selbstverständlichen Voraussetzung, daß sie auch ihm gewährt wird.

Darüber hinaus ist er bereit, positiv mit allen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, deren Fthik seinen Grundsätzen entspricht. Noch ehe der Sozialismus durch Marx und Engels beeinflußt worden ist, hat es einen christlichen Sozialismus gegeben. Er hat sich stets neben dem Marxismus und anderen, weltanschaulich indifferenten, sozialistischen Strömungen behauptet und stellt nach wie vor in vielen Ländern die maßgebliche Form des Sozialismus dar. Es wäre unverständlich, daß eine Religion der Nächstenliebe nicht mit dem Sozialismus vereinbar sein soll.

Wenn sich trotzdem in der Vergangenheit tiefe Gegensätze zwischen manchen christlichen Kirchen — vor allem, aber durchaus nicht allein, der katholischen — und dem Sozialismus herausgebildet haben, so sind die Ursachen dafür in erster Linie in kirchlichen Ansprüchen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet zu suchen, die mit den Zielen des Sozialismus unvereinbar sind, wenn auch nicht verkannt werden soll, daß sich diese Kirchen durch manche sozialistischen, zumeist vom Liberalismus übernommenen Anschauungen angegriffen fühlten.

Wenn die Kirchen die von ihnen für sich geforderte Toleranz auch dem demokratischen Sozialismus zubilligen, wird sich der Weg zu einer Verständigung zwischen ihnen und der sozialistischen Bewegung eröffnen,

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