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Unterwegs mit den Menschen

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Eines ist sicher: Die neue Sozialenzyklika „Centesimus Annus" wird lebhafte Diskussionen auslösen. Die einen werden in ihr eine Bestätigung der Marktwirtschaft sehen, andere werden sagen, daß die Kirche noch immer nicht verstanden hat, was Kapitalismus ist.

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Eines ist sicher: Die neue Sozialenzyklika „Centesimus Annus" wird lebhafte Diskussionen auslösen. Die einen werden in ihr eine Bestätigung der Marktwirtschaft sehen, andere werden sagen, daß die Kirche noch immer nicht verstanden hat, was Kapitalismus ist.

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Die neue Enzyklika setzt sich drei Ziele: Sie will „zurückblicken" auf die Auswirkungen der Arbeiterenzyklika von 1891, sie will „um sich bliic-ken" und das Neue aufgreifen, das sich aufdrängt, und sie will „in die Zukunft blicken", um Wegspuren für das Jahr 2000 aufzuzeigen. Den Einstieg bildet das dramatische Jahr 1989.

Mit Spannung liest man, wie Johannes Paul II. die Ursachen des Zusammenbruches des realen Sozialismus im Osten sieht. An erster Stelle nennt er die Revolte der Arbeiter, die der kollektiven Ideologie die Legitimation entziehen. Daß er hier vor allem an Polen denkt, ist nicht zu verwundern. An zweiter Stelle wird die „Untauglichkeit" des kollektivistischen Wirtschaftssystems angeführt, das Wohlstand versprochen, aber Elend gebracht hat. An dritter Stelle wird das wachsende Bewußtsein für die Menschenrechte genannt. Es ging wie ein Leuchtfeuer durch die sozialistischen Länder des Ostens und löste den Widerstand des Volkes aus.

Dann aber kommt der tiefste Grund: „Die wahre Ursache der jüngsten Ereignisse ist jedoch die vom Atheismus hervorgerufene geistige Leere." Dieser Satz muß mit großer Aufmerksamkeit gelesen werden. Die geistige Leere hat im letzten den Zusammenbruch des realen Sozialismus verursacht. Darum sollte man sich über eines im klaren sein: Wo immer geistige Leere erzeugt wird, wird der Gesellschaft das Fundament entzogen. Darum wird die Frage nach den tragenden Werten zur Kernfrage der Länder des Ostens und Westens in einerpost-marxistischen Gesellschaft.

Sieg des Kapitalismus? Die Sonde der Wertfrage wird zuerst an das Wirtschaftssystem des Kapitalismus angelegt. Die Enzyklika fragt beinhart: „Kann man etwa sagen, daß nach dem Scheitern des Kommunismus der Kapitalismus das siegreiche Wirtschaftssystem sei und daß er das Ziel der Anstrengungen der Länder ist, die ihre Wirtschaft und Gesellschaft neu aufzubauen suchen?".

Die Antwort der Enzyklika kann kein simples ,ja" oder „nein" sein. Alles hängt davon ab, was man unter „Kapitalismus" versteht. So formuliert es die Enzyklika: Versteht man unter Kapitalismus ein Wirtschaftssystem, das auf dem richtig verstandenen und sozial eingebundenen Eigentum beruht, das die wirtschaftliche Initiative der einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen anerkennt, das die berechtigte Funktion des Marktes und des Gewinnes bejaht und sich dem Gemeinwohl verpflichtet weiß, „ist die Antwort sicher positiv". Versteht man aber unter Kapitalismus ein System, in dem das Kapital über den Menschen herrscht und die Arbeit zur Ware degradiert, in dem man die Einbindung der Wirtschaft

„in eine feste Rechtsordnung" im Dienst des Gemeinwohles ablehnt, „dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ".

Die Enzyklika läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Bändigung des „ungezähmten" Kapitalismus keineswegs eine Tatsache ist. Es gibt nach wie vor „Formen der Ausbeutung und Ausgrenzung in der Dritten Welt", und es gibt „Erscheinungen menschlicher Entfremdung in den Industrieländern". Menschen werden an den Rand gedrängt, insbesondere die Frauen. Am Schluß sagt „Centesimus Annus": „Die westlichen Länder laufen ihrerseits Gefahr, in diesem Scheitern den einseitigen Sieg ihres Wirtschaftssystems zu sehen und kümmern sich daher nicht darum, an ihrem System die gebotenen Korrekturen vorzunehmen." Hier wird die Diskussion in aller Offenheit anzusetzen haben. Es ist zu hoffen, daß sie

sachlich und tolerant geführt wird.

Sieg der Demokratie? Die gleiche Sonde der Wertfrage legt die neue Enzyklika an das politische System einerpost-marxistischen Gesellschaft. Ist nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die westliche Demokratie die einzige Alternative für die politische Ordnung des Ostens und der Dritten Welt? Johannes Paul II. sagt auch hier, daß es nicht Aufgabe der Kirche ist, „ihr" politisches System vorzulegen. Wohl aber ist es ihre Aufgabe, jedes politische System dahin zu überprüfen, ob es ihrem Menschenbild entspricht oder nicht. „Centesimus Annus" legt ein grundsätzliches Bekenntnis zu einer demokratischen Ordnung ab, die „die Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen sicherstellt".

Aber es gilt auch hier, daß Demokratie eine sehr verschiedene Bedeutung haben kann. Für die neue Sozialenzyklika ruht eine menschengerechte demokratische Ordnung auf drei Säulen: An erster Stelle auf der Sicherung der Menschenrechte: dem Recht auf Leben, auf Familie, auf Arbeit, auf Religionsfreiheit und so weiter. Die Enzyklika zögert nicht einzuklagen, daß fundamentale Menschenrechte auch heute in angeblich demokrati-

schen Systemen verletzt werden.

Die zweite Säule, auf der ein demokratischer Staat zu ruhen hat, ist die Erhaltung und Förderung der „Subjektivität der Gesellschaft". Damit ist gemeint: Das Verbrechen des Kollektivismus bestand nicht nur darin, daß er die grundlegenden Menschenrechte verletzte, sondern, daß er die gesellschaftlichen Zwischenkörper wie Gebietskörperschaften, wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisationen und Vereinigungen zerstörte oder zu Vollzugsorganen der Staatsmacht degradierte.

Dadurch verfielen nicht nur die Eigenständigkeit und die Eigenverantwortung der gesellschaftlichen Kräfte, sondern es kam zur Ausbildung bürokratischer Apparate, die mehr an der eigenen Existenz als am Dienst an den Bürgern interessiert waren. Jede echte demokratische Ordnung wird daher daran interessiert sein, nach dem Subsidiaritätsprinzip das staatliche

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Es kommt in der modernen Demokratie zu Entartungen des politischen Verhaltens...

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Handeln „mit dem der anderen gesellschaftlichen Kräfte im Hinblick auf das Gemeinwohl abzustimmen".

Die dritte Säule eines demokratischen Staates besteht in seiner Verantwortung für das Gemeinwohl. Hier spricht „Centesimus Annus" von „einer Krise der demokratischen Systeme, denen mitunter die Fähigkeit zu Entscheidungen für das Gemeinwohl abhanden gekommen zu sein scheint". Es kommt in der modernen Demokratie zu „Entartungen des politischen Verhaltens", .Anfragen von Seiten der Gesellschaft werden bisweilen nicht nach Kriterien der Gerechtigkeit und Sittlichkeit geprüft, sondern mehr nach der Wahl- oder Finanzkraft der Gruppen, die sie unterstützen". Daraus ergeben sich „Mißtrauen und Gleichgültigkeit und in Folge eine Abnahme derpolitischen Beteiligung und des Gemeinsinnes der Bevölkerung, die sich hintergangen und enttäuscht fühlt".

Auch diese Aussagen der Enzyklika werden Diskussionen auslösen. Um es noch einmal zu sagen: Es geht Johannes Paul II. nicht um politische Details, sondern um die Grundfrage: Verfügen die westlichen Demokratien über jene ethischen Werte, die sie legitimieren, Leitbilder einer postmarxistischen Gesellschaft zu sein?

Unterwegs mit den Menschen. Das Schlußkapitel der Enzyklika „Centesimus Annus" ist alles eher als eine fromme Schlußansprache. Es enthält eine Sorge und ein Bekenntnis. Die Sorge: Inder 100jährigen Geschichte ihrer Sozialdokumente hat die Kirche die Erfahrung gemacht, daß Wirtschafts- und Sozialsysteme den Menschen immer wieder ein Paradies auf Erden versprochen haben. Sie glaubten, das primär durch wirtschaftliche oder politische Reformen erzwingen zu können. Sie haben das getan, weil sie von einem einseitigen Menschen-

bild ausgingen und einseitig auf die Wirkkraft wirtschaftlicher und politischer Lösungen vertrauten.

Die Kirche will keineswegs die gemachten Fortschritte leugnen und die Bedeutung von Wirtschaft und Politik unterschätzen. Aber sie ist in Sorge, daß man nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus wiederum in die Euphorie einer bloßen wirtschaftlichen und politischen „Machbarkeit" zurückfällt. Damit aber wird die „geistige Leere" nicht aufgefüllt, die nach der Enzyklika Hauptgrund für den Zusammenbruch des realen Sozialismus war. Und mit dieser Haltung wird man die Herausforderungen der Dritten Welt und der anderen anstehenden Probleme nicht lösen können.

„Centesimus Annus" formuliert die Sorge der Kirche sehr eindrucksvoll: „Es gibt in den Industrieländern bisweilen eine geradezu besessene Propaganda für die rein utilitaristischen Werte, verbunden mit einer Enthemmung der Triebe und einem Drang zum unmittelbaren Genuß, die ein Erkennen und Anerkennen einer Werthierarchie im Leben geradezu unmöglich macht."

Das Schlußkapitel enthält aber auch ein Bekenntnis: Wenn die Kirche 100

Jahre nach „Rerum novarum" und nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus wieder ein Wort zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Problemen sagt, dann tut sie es nicht, weil sie Privilegien zurückerhalten oder den Menschen ihre Vorstellungen aufzwingen will. Sie tut es ausschließlich im Dienst am Menschen, für den sie vom Herrn den Auftrag erhalten hat, ihn durch die Ereignisse der Zeit zu seinem endzeitlichen Heil zu begleiten. Sie weißdabei, daß sie die Fragen und Aufgaben der Jetztzeit nicht allein beantworten und noch weniger allein lösen kann. Darum sucht sie das Gespräch und den Dialog mit den anderen christlichen Kirchen, mit den großen Weltreligionen und allen Menschen guten Willens.

Johannes Paul II. sagte am Anfang der neuen Enzyklika, daß die Kirche vor 100 Jahren durch die Enzyklika „Rerum novarum" das gesellschaftliche „Bürgerrecht" erhalten habe und damit auf neue Weise den Weg der Menschen zu ihrem Weg machte. Die neue Enzyklika ist ein Beweis dafür, daß die Kirche auch im Jahr 2000 mit den Menschen unterwegs sein will. Der Autor ist Professor für Sozialethik an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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