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Entscheidende Lücke in der Soziallehre

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Keine päpstliche Enzyklika hat so viele Kommentare ausgelöst wie das Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“. Aber auch die Kommentare haben ihre wunden Punkte.

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Keine päpstliche Enzyklika hat so viele Kommentare ausgelöst wie das Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“. Aber auch die Kommentare haben ihre wunden Punkte.

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Mit Ausnahme von „Humanae vitae“ ist bisher keine päpstliche Enzyklika auf so viel — auch innerkirchliche — Kritik gestoßen wie das Rundschreiben „Sollicitu-do rei socialis“. Und selbst Johannes Schasching SJ, Professor an der Päpstlichen Universität Gre-goriana in Rom, empfindet es in seinem jüngst erschienenen Kommentar1 als „schmerzlich“, daß es der Papst „nirgends offen ausspricht“, daß es keine „moralische Symmetrie“ zwischen liberalisti-schem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus gibt: „Dadurch ist Schaden entstanden, der hätte vermieden werden können.“

Die Ideologien, die - „tiefer gesehen“ - den beiden weltpolitischen Blöcken zugrunde liegen, haben - so meint Johannes Paul II. — „zwei Auffassungen“ von der Entwicklung der Menschen und Völker, die beide unvollkommen sind und als solche eine tiefgreifende Korrektur erfordern.

Am schwersten wog dabei — so

Professor Schasching — in den Augen der Kritiker —, daß Johannes Paul II. mit seiner Beurteilung beide Blöcke in Ost und West als „Strukturen der Sünde“ auf die gleiche moralische beziehungsweise amoralische Stufe stellt. Sie hätten vom Papst erwartet, daß er einen eindeutigen Unterschied zwischen Kapitalismus und Kollektivismus macht. Der Begriff des „liberalen Kapitalismus“, wie ihn der Papst gebraucht, sei „lateinamerikanisch“, treffe also auf die Wirklichkeit des westlichen Kapitalismus in keiner Weise zu. Dort ist der Profit keineswegs das Hauptmotiv des wirtschaftlichen Fortschrittes, die Konkurrenz nicht das oberste Gesetz der Wirtschaft und das Privateigentum an Produktionsmitteln keineswegs ein absolutes Recht. Diese Vorstellung von Kapitalismus gehört der Vergangenheit an.

Diese „harte“ Kritik müsse die Soziallehre der Kirche sehr ernst nehmen: „Es genügt nicht, sie dogmatisch auszuklammern. Es steht in der Entwicklung der Völker zu viel auf dem Spiel, als daß der so notwendige Dialog wegen Mißverständnissen und Meinungsverschiedenheiten verkürzt werden dürfte. Es steht noch ein gutes Stück Arbeit bevor.“

Zur generellen Beurteilung der beiden Blöcke als „Strukturen der Sünde“ sieht Schasching das Ziel des Papstes damit darin, die Weltmächte von der Fehlerhaftigkeit ihrer Strukturen und Mechanismen zu überzeugen und sie zur Umkehr zu bewegen. Offen bleibt für den kritischen Leser, ob es in einer Gesellschaft erbsündiger Menschen überhaupt andere als „Strukturen der Sünde“ geben kann!

Eine zweite kritische Argumentationskette geht in folgende Richtung: Die Enzyklika stellt einen Katalog sittlicher Forderungen auf, die nur in der westlichen Welt verwirklicht werden können, wie zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit, unternehmerische Initiative, Religionsfreiheit und so weiter.

Daß die Enzyklika in ihrer Gesamtschau in dieser Frage sehr unterschiedliche Interpretationen findet, zeigt die Auseinandersetzung über die gesellschaftspolitische Tragweite der Anerkennung der unternehmerischen Initiative. Im Rahmen einer sehr positiven Darstellung der Enzyklika, die mehrere Artikel umfaßt, hat sich dazu der Paderborner katholische Sozialethiker Theodor Herr geäußert. Er hält es für besonders beachtenswert, „daß in der neuen Enzyklika zum ersten Mal im Rahmen der Menschenrechte von einem .Recht auf un-“ ternehmerische Initiative' ge-; . y /. sprechen wird.

Damit wäre natürlich nicht jedweder Kapitalismus von vornherein gerechtfertigt, doch dürfte es in Zukunft nicht mehr statthaft sein, das kapitalistische Wirtschaftssystem als in sich unsittlich zu bezeichnen, wie das verschiedene kirchliche Gruppen zu tun belieben“. Diese Formulierung eines Rechts auf unternehmerische Tätigkeit stelle insoferne ein Novum dar, als dieses

Recht noch über das passive Besitzrecht an Produktionsmitteln hinausgeht: „Dieses Recht ist, wenn es in seinem vollem Umfang praktiziert werden soll, nur in einer freien Marktwirtschaft zu realisieren.“2

Ob nun der Papst damit die Idee Joseph Schumpeters aufgreifen wollte oder ob seine Äußerung bereits ein Indiz mehr dafür ist, daß dieser große österreichische Nationalökonom (Keynes ablösend) „der“ Ökonom des auslaufenden Jahrhunderts geworden ist, wie manche meinen, Schumpeter hat jedenfalls mit der Entdeckung des innovativen Unternehmers gegenüber allen bisherigen Verteidigern wie auch Kritikern des Kapitalismus eine neue Kapitalismustheorie aufgestellt. Folgt man ihr, wie es der Papst da offenbar tut, dann ist damit auch schon das dazu adäquate Wirtschaftssy-

,,Joseph Schumpeter ist ,der' Ökonom des auslaufenden Jahrhunderts“ stem gewählt: nämlich ein grundsätzlich marktwirtschaftliches. Das ist keine Frage einer besonderen Facheinsicht, wie man sie von einem hierarchischen Organ der Kirche nur zu Unrecht erwarten dürfte, sondern eine bloße Frage der Logik, die für alle Menschen gilt.

Dem Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Alois Riedlsperger SJ3, aber gefällt der Schluß von der Forderung nach unternehmerischer Initiative auf die dazugehörige Wirtschaftsordnung grundsätzlich nicht. Er nimmt schon daran Anstoß, daß die (erste) deutsche Ubersetzung von „unternehmerischer“ Initiative spricht statt -wie er es bevorzugt — von „wirtschaftlicher“ Initiative, so hält er überhaupt eine „Redimensionali-sierung“ dieser Forderung für angebracht. Er möchte diese Forderung nur auf die Entwicklungsländer und die kommunistischen Staaten beschränkt wissen, auf welche diese Erwähnungen des Papstes (auch nur) „anzuspielen scheinen“.

Eines aber scheint ihm unter Bezugnahme auf Professor Herr sicher: „Mit der erwähnten Passage ein Plädoyer für die freie Marktwirtschaft zu begründen, muß jeden erstaunen, der .Sollicitudo rei socialis' auch nur flüchtig gelesen hat.“ Er räumt aber immerhin selbst ein, „daß .Sollicitudo rei socialis' manchem in den Aussagen zu wenig konsistent, in der Analyse zu undifferenziert, in der Argumentation zu theologisch oder in den konkreten Forderungen zu dürftig ist“. Mehr oder weniger unverblümt reduziert P. Riedlsperger die Aussage des Papstes zumindest auf „eine verbindliche Anfrage an das soziale Gewissen“.

Diese Auseinandersetzung aber läßt genau den wunden Punkt erkennen, der in der von beiden

Kommentatoren mehr oder weniger offen ausgesprochenen Kritik zum Ausdruck kommt: In der heutigen ordnungspolitischen Auseinandersetzung geht es (weltweit) um das Zusammenwirken der Effizienz des wettbewerbsgesteuerten (nicht jedes!) Marktes aufgrund adäquater politischer Rahmenbedingungen mit einer sogenannten Zweiten Einkommensverteilung, die die des Marktes korrigiert zugunsten derer, die auf dem Markt nichts anzubieten haben, aufgrund eines ethischen Minimalkonsenses innerhalb der betreffenden Bevölkerung.

So gesehen gibt es heute kein Wirtschaftssystem des Westens schlechthin, sondern unterschiedlich ausgeprägte und unterschiedlich widerspruchsvolle ordnungspolitische Konzeptionen, auf welche nicht zuletzt auch Vertreter christlich-humaner Ordnungsvorstellungen unterschiedliche Einflüsse ausgeübt haben und laufend ausüben. Was die Aussage von Professor Herr in ein schiefes Licht rückt, ist die Bezeichnung „freie“ Marktwirtschaft. Wäre er mit dem einschlägigen Vokabularium vertraut, hätte er sicherlich „soziale“ oder „sozial ergänzte“ oder ganz einfach bloß „Marktwirtschaft“ gesagt.

Wäre es angesichts dieser Verständnisschwierigkeiten nicht sachlich effizienter wie auch pastoral erfolgversprechender gewesen, die dafür entscheidenden

„Die entscheidenden Gesichtspunkte mehr zum Ausdruck bringen“

Gesichtspunkte deutlicher zum Ausdruck zu bringen, wie Schasching und letzten Endes auch Riedlsperger mit Recht meinen? Oder wird hier nicht überhaupt eine ordnungspolitische Lücke in der derzeitigen kirchlichen Soziallehre erkennbar?

1J. Schasching, In Sorge um Entwicklung und Frieden, Kommentar zur Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ von Johannes Paul II. Herausgegeben von der Katholischen Sozialakademie Österreichs in der Reihe „Soziale Brennpunkte“, Europaverlag Wien-Zürich und Patmos-Verlag, Düsseldorf 1988. 1 Theodor Herr, Jeder hat das Recht auf unternehmerische Initiative - Der Papst unterstützt in der neuen Sozialenzyklika den verantwortlichen freien Wettbewerb, in: Deutsche Tagespost Nr. 33 vom 19. März 1988. ' A. Riedlsperger, Der „andere“ Papst - Die soziale Botschaft Johannes Paul II. in: Kirche intern. Forum für eine offene Kirche Nr. 15 vom Juli 1988.

Der Autor ist Finanzminister und Nationalbankpräsident a. D. und Mitherausgeber der FURCHE.

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