past Assis - ©  APA / AFP / Vatican Media / Handout - 3. Oktober 2020: Papst Franziskus unterzeichnet am Grab des hl. Franziskus in Assisi die neue Enzyklika

Enzyklika "Fratelli Tutti": Ethik des barmherzigen Samariters

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„Fratelli tutti“ II: In seiner neuen Sozialenzyklika blickt Papst Franziskus auf die Welt unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Corona-Pandemie nicht verursacht, aber zugespitzt hat.

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„Fratelli tutti“ II: In seiner neuen Sozialenzyklika blickt Papst Franziskus auf die Welt unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Corona-Pandemie nicht verursacht, aber zugespitzt hat.

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„Ignatius von Assisi“ hat Rudolf Mitlöhner seinerzeit den neuen Papst genannt, den ersten aus dem Jesui­tenorden, der, auch das ein Novum, den Namen des italienischen Nationalheiligen wählte. Was Wunder, dass seine erste Sozialenzyklika Laudato si’ (2015), die schnell als „Öko-Enzyklika“ etikettiert wurde, vom Sonnengesang des Poverellos inspiriert war. Nun hat Franziskus am vergangenen Samstag – wo sonst? – in Assisi seine zweite Sozialenzyklika unterschrieben, die tags darauf veröffent­licht wurde, verfasst unter dem Eindruck der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Corona-Pandemie nicht verursacht, aber aufgedeckt oder zugespitzt hat.

Nachdem vor einigen Wochen der Titel des neuen Lehrschreibens bekanntgegeben wurde und hierzulande heftige (aus meiner Sicht: hysterische) Debatten über Fratelli tutti aufkamen und Andrea Tornielli aus dem Vatikan erklären musste, dass es sich um inklusive Rede- und Schreibweise handle, darf man jetzt über den deutschen Untertitel nicht überrascht sein: „Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“. Mit der Anrede „Fratelli tutti“ hatte sich Franz von Assisi seinerzeit „an alle Brüder und Schwestern“ gewandt, „um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen“ (Nr. 1).

Fragen kann man, warum eine Enzyklika heute so beginnen muss. Aber das ist ein rein deutschsprachiges Problem, auch wenn der Papst in puncto Gendersensibilität gewiss Lernbedarf hat.

Von Al-Tayyeb bis Karl Rahner

Hat Franziskus 2015 beim orthodoxen Patriarchen Bartholomaios Inspiration gefunden, erwähnt er diesmal ausdrücklich – und zwar gleich vier Mal – den ägyptischen Großimam Ahmad Al-Tayyeb. Als sie sich im Februar 2019 in Abu Dhabi begegneten, unterzeichneten sie dort ein vielbeachtetes „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, auf das Franziskus wiederholt zu sprechen kommt. Ganz am Ende erwähnt er (nach Franz von Assisi), dass er sich diesmal auch „von nichtkatholischen Brüdern (habe) inspirieren lassen: Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und viele andere.“ Und er verweist auf den „Weg der Verwandlung“, den der Priester und Eremit Charles de Foucauld gegangen ist (Nr. 286).

Enzykliken vertiefen und führen weiter, was ein Papst auch sonst sagt und schreibt. So kann es nicht verwundern, dass er, neben seinen Vorgängern Pius XI., Johannes XXIII., Johannes Paul II. und Benedikt XVI., zitiert, was er selbst bei verschiedenen Gelegenheiten vor dem Diplomatischen Korps, der Römischen Kurie, auf Reisen vor Vertretern des politischen und gesellschaftlichen Lebens, vor dem Europaparlament in Straßburg, vor der UNO gesagt oder in Videobotschaften mitgeteilt hat.

Wieder sind eine ganze Reihe von Bischofskonferenzen zitiert – der Papst beginnt nicht bei Null, er nimmt zur Kenntnis, was andere sagen. Interessant ist auch, dass er zeitgenössische Autoren erwähnt: Georg Simmel, Gabriel Marcel, Paul Ricœur oder Karl Rahner SJ (aus dessen Predigt „Bilanz von Neujahr“ von 1954); aber auch zwei lebende Jesuiten, nämlich Antonio Spadaro und Jaime Hoyos-Vásquez. Drei Mal wird auf den Film von Wim Wenders, „Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes“ (2018), Bezug genommen: „Die Welt braucht Hoffnung“.

Was dem Papst unter den Nägeln brennt

Fratelli tutti kommt oft auf Laudato si’ zurück und auf das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium. Wie schon 2013 kritisiert Franziskus auch hier die Trickle-down-Theorie, nach der vor allem das Wirtschaftswachstum Wohlstand auch in sozial schwache Schichten bringen würde, und er verweist zusätzlich „auf die magische Vorstellung des Spillover“ als exklusive „Wege zur gesellschaftlichen Lösung der Probleme“ (Nr. 168). Er erinnert an die Finanzkrise 2007/08 und deren fatale Folgen (Nr. 170): Ob wir daraus gelernt haben?

Migration, Fremdenfeindlichkeit, Natio­nalismen, Populismus, Rassismus, Hassgruppen im Netz, soziale Aggressivität auf Mobilgeräten, Wachtürme und Verteidigungsmauern, Globalisierung der Gleichgültigkeit, die Mentalität der Wegwerf-Kultur, Relativismus, Religionsfreiheit: Diese Themen hat Franziskus auch anderswo schon berührt. Sie brennen ihm unter den Nägeln.

Wenn er der Politik empfiehlt, auf Nächs­ten­liebe, Barmherzigkeit und Zärtlichkeit zu achten, mag man das als naiv bezeichnen. Aber sind deren
Methoden effektiver?

Wenn er der Politik empfiehlt, auf Nächs­tenliebe, Barmherzigkeit und Zärtlichkeit zu achten, mag man das als realpolitische Naivität bezeichnen. Aber sind die Methoden der Realpolitik effektiver? Zielführender? Nicht umsonst wird an Hiroshima und Naga­saki erinnert, an Menschenrechte, Sklaven- und Menschenhandel, ethnische Säuberungen, Ausbeutung und den sexuellen Missbrauch von Kindern, werden gleiche Rechte und gleiche Würde für Frauen (ein Bumerang-Thema für die katholische Kirche!) eingeklagt.

„Dritter Weltkrieg in Stücken“

Dass wir weltweit alle in einem Boot sitzen (Nr. 30, 31), dass ein Papst vor einem „dritten Weltkrieg in Stücken“ (Nr. 25, 259) warnt, sich für Solidarität und Subsidiarität einsetzt, gehört sozusagen zur päpstlichen Pflichtrhetorik. Nichts abgewinnen kann Franziskus einem Präventivkrieg. Auch die Idee des gerechten Kriegs und die Todesstrafe sind für ihn überholt (Nr. 258, 269). Diesbezüglich einkalkulierten „Kollateralschäden“ begegnet er so: „Fragen wir die Opfer. Achten wir auf die Flüchtlinge.“ (Nr. 261)

Franziskus ist nicht nur fromm, sondern auch konkret. Konkreter, als manchen Regierungen lieb sein dürfte, etwa wenn er bei humanitären Krisen für vereinfachte Antragsverfahren plädiert und darum bittet, mehr Visa auszustellen (Nr. 130). Wie liest man so eine Passage in einer Staatskanzlei oder im Bundeskanzleramt: „Im Hinblick auf die Zukunft müssen an manchen Tagen die Fragen lauten: ,Zu welchem Zweck? Worauf ziele ich wirklich ab?‘ Denn wenn wir nach einigen Jahren über die eigene Vergangenheit nachdenken, wird die Frage nicht lauten: ,Wie viele haben mir zugestimmt, wie viele haben mich gewählt, wie viele hatten ein positives Bild von mir?‘ Die vielleicht schmerzlichen Fragen werden sein: ,Wie viel Liebe habe ich in meine Arbeit gelegt? Wo hat sie das Volk vorangebracht? Welche Spur habe ich im Leben der Gesellschaft hinterlassen? Welche realen Bindungen habe ich aufgebaut? Welche positiven Kräfte habe ich freigesetzt? Wie viel gesellschaftlichen Frieden habe ich gesät? Was habe ich an dem Platz, der mir anvertraut wurde, bewirkt?‘“ (Nr. 197) Kann man sich da noch hinter Political Correctness verstecken?

Ein Seelsorger und Hirte spricht aus

Fratelli tutti: „Ich lade zur Hoffnung ein.“ (Nr. 55) Und diese Enzyklika macht Hoffnung! Ob ein anderer Lebensstil möglich ist? Ein neues Denken? Der barmherzige Samariter ist für Franziskus nicht nur
eine nette Episode aus den Evangelien: „Die Erzählung – sagen wir es deutlich – liefert keine Lehre abstrakter Ideale und beschränkt sich auch nicht auf die Funktionalität einer sozialethischen Moral.“ (Nr. 68)
Er erinnert daran: „Die Zärtlichkeit ist die Straße, die die mutigsten Männer und Frauen beschritten haben“ (Nr. 194).

Kurienkardinal Walter Kasper hat es in der Zeit (41/2020) auf den Punkt gebracht: „Franziskus ist kein liberaler, er ist ein radikaler, das heißt ein an die Wurzel (radix) des Evangeliums gehender Reformer. Das Evangelium ist für ihn kein sozialpolitisches Programm, aber auch kein weltfremdes frommes Gesäusel. Es ist ähnlich wie bei den Propheten des Alten Testaments und bei Jesus selbst eine Heilsbotschaft, die Konsequenzen, manchmal auch unbequeme Konsequenzen hat im Alltag der Welt.“

Der Autor ist Jesuit und Publizist. Er lebt in München.

Text der Enzyklika

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