Nicht ausgrenzen, sondern EINGLIEDERN

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Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche. Mit diesem auf die Konzilskonstitution Gaudium et spes verweisenden Einleitungssatz vertieft Papst Franziskus in Amoris laetitia (AL) die von ihm schon 2013 im Interview mit Antonio Spadaro SJ betonte "absolut unumkehrbare Dynamik der aktualisierten Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist".

Diese "dem Evangelium selbst" entspringende Dynamik impliziert ein Kirchenbild als Volk Gottes mit vielfältigen Verantwortungsebenen und vor allem ein geschichtsgebundenes Offenbarungsverständnis, wonach Gott sich ständig neu als überströmende Liebe den Menschen mitteilt und so deren Würdigung begründet. AL "ist von A bis Z ein Dokument der Liebe" (Kardinal Schönborn) und davon beseelt, dass die Lehre der Kirche diese ständige Neuheit des Evangeliums erschließen muss. Darum kommt in AL der Logik der pastoralen Barmherzigkeit zentrale Bedeutung zu, aber ebenso den Begriffen Würde, Gewissen, Dialog sowie geistliche Begleitung, Unterscheidung und Integration.

"Irregulär" immer unter Anführungszeichen

Dieser Dynamik zufolge ist es für Papst Franziskus nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten "irregulären" Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben. Wer gegenteilig meint, sich hinter der Lehre der Kirche verstecken zu können, ist nicht nur kleinlich, sondern verdunkelt, dass die unverdient, bedingungslos und gegenleistungsfrei zugesagte Liebe Gottes dazu auffordert, in einen pastoralen Dialog mit diesen Menschen zu treten, um jene Elemente in ihrem Leben hervorzuheben, die zu einer größeren Offenheit gegenüber dem Evangelium der Ehe in seiner Fülle führen können.

Somit kann -etwa im Blick auf zivil wiederverheiratete Geschiedene -auf der Basis der Einbeziehung des Gewissens und der kirchlich soliden Reflexion über die mildernden Umstände und Bedingungen ein Gespräch mit dem Priester im "Forum internum" zur Bildung einer rechten Beurteilung dessen beitragen, was die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche behindert oder begünstigt. In gewissen Fällen kann das gemäß Fußnote 351 auch den vollen Zugang zur Eucharistie besagen. Der Papst bekräftigt damit eine pastorale Praxis, die bereits seit Längerem in vielen deutschsprachigen Diözesen üblich ist -und künftig nicht mehr möglich ist, zu verbieten. Wie diese aus dem Evangelium gespeiste Logik der Integration als Schlüssel der pastoralen Begleitung genauer zu gestalten ist, überlässt Franziskus den Kirchen vor Ort. Die schon im Schreiben Evangelii gaudium genannte "heilsame Dezentralisierung" wird so Realität.

Jene, die schon bisher Zweifel an der hinreichenden Katholizität des jetzigen Papstes hegten, werden in AL erneut eine Verwässerung der kirchlichen Lehre sehen. Einzelfalllösungen würden, so der dem konservativen Flügel zugerechnete emeritierte deutsche Kurienkardinal Walter Brandmüller, nicht nur die "Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung untergraben", sondern ein lehrhafter Widerspruch sein: "Was aus Glaubensgründen grundsätzlich unmöglich ist, ist es auch im Einzelfall". Da hilft es wenig, auf den ebenso emeritierten Kurienkardinal Walter Kasper zu verweisen, der das Papstschreiben positiv als "bemerkenswertes Dokument" würdigte, dessen Katholizität aber vom genannten Flügel ebenso angezweifelt wird. Helfen kann hier nur eine Verdeutlichung der unterschiedlich zugrunde gelegten Denkformate.

Für Franziskus ist klar, dass die Lehre der Kirche in der pastoralen Praxis bestimmend sein muss. Er verteidigt die Unauflöslichkeit der Ehe, befürwortet die natürliche Empfängnisregelung und lehnt die Ehe von homosexuellen Personen ab. Diese für alle Katholiken gleichermaßen gültige Lehre interpretiert er aber anders. Er erkennt zwei Arten von Logik, welche die Kirche prägen: ausgrenzen und wiedereingliedern. Die erste Logik entspricht dem vorkonziliar üblichen naturrechtlich-jurdischen Denkformat, das Gefahr läuft, zu einer bloßen Verteidigung einer kalten und leblosen Doktrin zu werden. Sie teilt ein in natürliche und unnatürliche, reguläre und irreguläre Situationen und bewirkt damit Ausgrenzungen. Dagegen entspricht der zweiten Logik ein personales Denkformat, das alle Menschen im Horizont der bedingungslos zugesagten Liebe Gottes begreift, weshalb Gott auch in den vielen Geschichten der Liebe gegenwärtig ist, seien sie nun -objektiv betrachtet -natürlich oder unnatürlich, regulär oder irregulär.

Barmherzigkeit darf nicht ausgehöhlt werden

Dieser in jedem Menschen präsenten Liebe Gottes will Franziskus in der Seelsorge Raum geben. Im oben genannten Interview sagt er: "Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person." Wer jedoch "in übertriebener Weise die ,Sicherheit' in der Lehre sucht", der hat nicht nur "eine statische und rückwärtsgewandte Vision", sondern vermag in komplexen Situationen auch keine "Räume für Gott zu öffnen". Die Verwässerung der Lehre verortet Franziskus daher völlig anders. Sie ist dort gegeben, wo wir der Barmherzigkeit so viele Bedingungen stellen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen.

Plädoyer für die "Konzilsdynamik"

Auffallend ist, dass Franziskus auf Lehraussagen seiner Vorgänger (von Pius XI. bis Benedikt XVI.) nur insofern Bezug nimmt, als sie der Dynamik des Konzils nicht entgegenstehen. Aussagen, die in den vergangenen Jahrzehnten oft als Rückschritt hinter das Konzil angesehen wurden, meidet er konsequent. Man kann das als selektive Zitation kritisieren. Man kann AL aber auch als den Versuch einer verbindlichen Interpretation der "Konzilsdynamik" begreifen. Damit positioniert sich Franziskus aber im Widerspruch zu teilweise nach wie vor vorkonziliar interpretierten Lehrinhalten.

Die Diskussion um die rechte Konzilsrezeption in Fragen von Ehe, Familie und Sexualität wird somit wieder neu aufflammen. Darüber hinaus wird das auch im Blick auf homosexuelle Personen der Fall sein, wo Franziskus in AL hinter seinen in Interviews getätigten Aussagen zurück bleibt.

Des Weiteren wird sich der Diskurs auch auf die zum Teil widersprüchlichen Aussagen zu Frau und Mann beziehen. Einerseits werden die Figur von Mutter und Vater als genau definiert vorgestellt, andererseits ist das Männliche und Weibliche nicht etwas starr Umgrenztes, da es auch anderen Faktoren als nur biologischen oder genetischen unterliegt. Explizit würdigt Franziskus sogar den Feminismus, sofern er weder die Uniformität anstrebt noch die Mutterschaft verneint.

Zugleich wird die Ideologie, die gemeinhin "Gender" genannt wird, zurückgewiesen, jedoch auf einer wissenschaftlich unhaltbaren Voraussetzung, die eine radikale Abkoppelung vom biologischen Geschlecht unterstellt. Müsste hier nicht bedacht werden, dass dieser Ideologievorwurf jenen geschichtsenthobenen Fundamentalismen zugute kommt, die alsbald die bisherige kirchliche Lehre gegen das Schreiben von Papst Franziskus in Stellung bringen werden?

| Der Autor ist Professor für Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien|

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