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Das Erbe

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Wenn diese Zeilen unsere Leser erreichen, ist der neue Papst vielleicht schon gewählt: der zweihundertund-dreiundsechzigste Nachfolger beginnt das Erbe zu tragen.

Das Erbe ist groß, schwer. Seine Last erscheint vielen Nichtkatholiken als untragbar. Seine Sprengkraft erscheint vielen Katholiken als furchterweckend.

Das kürzeste Pontifikat des 20. Jahrhunderts, die nicht ganz viereinhalbjährige Regierungszeit des Papstes Johannes XXIII., hat diese beiden Realitäten offener als zuvor sichtbar werden lassen: die Last der Vergangenheiten und die Möglichkeiten der Zukunft.

Es ist vielfach bemerkt worden: Vielen Regierungsperioden von Päpsten der letzten Jahrhunderte, nach der Reformation und in der Epoche der Revolutionen, die mit der Französischen Revolution begonnen haben, haftet etwas Mühsames und Mühseliges an: die Päpste erscheinen da nicht nur den neugierigen Besuchern Roms aus nichtkatholischen Sphären, etwa aus England und Deutschland, sondern selbst ihren engsten Mitarbeitern als Lastträger. Sie tragen die schwere Pracht, den Prunk von Jahrtausenden. Sie stehen, unbeweglich, am Steuer des Schiffes der Kirche, das aus Stein und Gold erbaut erscheint: so wie jenes Prunkschiff, das sich im kaisergelben Peking die letzte Kaiserin von China bauen ließ, aus Geldern, die chinesische Kaufleute gesammelt hatten, um zur Verteidigung Chinas gegen räuberische Seemächte eine Flotte ausrüsten zu können.

Das Schiff der römischen Kirche schien für viele Nichtkatholiken und auch Katholiken nur noch in engen Räumen und auf genau festgelegten Kursen, wenig manövrierfähig, fahren zu können, nachdem die protestantischen Seemächte die große katholische Seemacht, Spanien, niedergekämpft hatten. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, sondern geschichtlich richtig gesehen, in dieser Optik, daß Enzykliken von Päpsten des 19. Jahrhunderts immer wieder das Meer als ein drohendes, wildbewegtes Ungeheuer sehen, das mit seinen Stürmen das Schiff der Kirche tödlich bedroht. Römer haben sehr lange ihre Angst vor der See nicht überwinden können. Es bedurfte einer noch größeren Angst, nämlich des Erscheinens Hannibals vor den Toren Roms, um diese eine Angst zu bannen. Rom rüstete dann also seine erste nennenswerte Flotte aus, um den Erzfeind Karthago ins Herz treffen zu können. Flotte und Krieg gehören in diesem römischen Weltzeitalter so zusammen, wie „Krieg, Handel und Piraterie“ in Goethes Faust.

Der Grieche liebkost und ehrt das Meer mit hundert verschiedenen Wor-

ten. Die freie See ist ihm die leuchtende Erscheinung göttlicher Freude und Schönheit. Aphrodite, die Göttin der Schönheit, steigt als Schaumgeborene aus den Tiefen des Meeres herauf.

In seinen letzten Tagen steigen Johannes XXIII. in dem qualvollen Todeskampf, der in vier Tagen das starke, mächtige Herz bricht, wieder Bilder der Erinnerung an Griechenland, Bulgarien, die Türkei herauf: Erinnerung an die große, unersetzliche, bitterschöne Erfahrung: da gibt es Menschen und Völker, die sehr anders sind und die anders bleiben wollen mit allen Fasern ihrer Seele. Diese andersdenkenden und in anderen Formen Glaubenden sind unsere Brüder.

Der Sterbende preßt immer wieder das alte Kreuz an sich, das er 1926 bei einem Antiquitätenhändler erstanden hat und das er ins Grab mitnehmen möchte. Ut omnes unum sint. Die Sorge des Apostels Johannes um die brüderliche Vereinigung in Liebe bedrängt, beglückt, quält, verzehrt den Sterbenden.

Die Last der Jahrtausende scheint ihn zu zermalmen.

Dem Sterbenden strömt eine Flut von Zuneigung, von Freundschaft, von Liebe zu, wie nie zuvor, seit es ein Papsttum gibt, von Menschen anderer Religionen, anderer Weltanschauungen, anderer politischer Positionen.

Als würdige Vertreter einer riesigen Interessengemeinschaft haben sich Päpste Ansehen in dieser Welt gerade auch bei Andersdenkenden erworben. Wälle fielen durch diese Anerkennung nicht. Fronten wurden nicht überwunden. Der kalte Krieg, der seit der Reformation und seit den Tagen des Galilei und seiner römischen Verurteilung ein unüberwindliches Mißtrauen um Rom geschaffen hat, wurde nicht überwunden. Die Römische Kirche und die Welt rund um sie und gegen sie, beide hatten sich mit der harten Tatsache abgefunden: das Erbe trennt uns; die Last des Erbes, der Traditionen, der Verpflichtungen, des Selbstverständnisses dieses Papsttums. Und diese wurde, im 19. und 20. Jahrhundert, erschreckend deutlich sichtbar: seltsam tragisch korrespondierend mit feierlichen Erklärungen und mit den Lippenbekenntnissen zur Einheit, Vereinigung und Wiedervereinigung schien es — für viele Außenstehende und nicht wenige Katholiken, wie etwa den großen österreichischen Engländer Friedrich von Hügel — doch so zu sein: daß gleichzeitig mit Exhortatio-nen und Aufforderungen an die Menschheit und die getrennten Christen zur Vereinigung jeder neue Papst neue Steine herbeizutragen schien, um den Bau der ewigen Roma zu härten, zu erhöhen, abzuschließen gegen außen.

Die Macht dieses Bauwillens ist groß, ist in bedeutenden Repräsentanten der Kirche in Rom und im Katholizismus eindrucksvoll zugegen. Männer dieses Bauwillens sind hart, direkt ins Gesicht und in das Herz treffend, dem Papst Johannes XXIII. bei Lebzeiten entgegengetreten. Diese Bauherren ließen den Papst in jeder Stunde seiner Regierungszeit wissen, was sie vom Papst forderten: Bauherr und Träger dieses Erbes zu sein. Der Papst hat sich nicht zu bewegen; er hat den Vatikan nicht zu verlassen. Unbeweglichen Antlitzes hat er die Menschheit zu weisen und zu richten.

Jeder neue Papst hat dieses Erbe zu übernehmen. Niemand kann an ihm vorbeisehen, vorbeigehen, in der römisch-katholischen Kirche. Am allerwenigsten in Rom selbst. Johannes XXIII. ging daran, das Erbe zu Ver-

flüssigen. Der vielberedete, vielberufene und vielfach bepredigte „Schatz der Kirche“: er soll flüssig werden, in strömenden, strahlenden Energien des Lebens, der Liebe. Er soll die Welt durchströmen. Der letzte Teil der letzten Enzyklika des Papstes Johannes XXIII., der, wie der Kardi-nal-Erzbischof von Wien, Dr. Franz König, unmittelbar nach dem Ableben des Papstes in seinem Nachruf ausführte, in späten Nacht- und frühesten Morgenstunden redigierend gearbeitet hat, gilt eben dieser großen Sorge: die Katholiken werden ermahnt, ermuntert, aufgefordert “und gebeten, sich brüderlich in den Dienst zu begeben; in den Dienst am Menschen, in der Menschheit, in der Schöpfung. Johannes XXIII. lädt alle Katholiken ein, das große Erbe zu verflüssigen. Johannes XXIII. bittet seinen Nachfolger, dieses große Werk fortzusetzen.

An der Schwelle des neuen Papsttums stehen sich heute, in diesem Juni 1963, wie vor vierhundert Jahren, in den Jahrzehnten des Konzils von Trient, Katholiken gegenüber: die einen meinen (seit vierhundert Jahren), daß diese Verflüssigung eine böse, tödlich gefährliche Liquidierung der Kirche bedeute; sie falle, wenn sie ihre Positionen nicht halte, mit allen Mitteln. Andere, wie damals etwa die erasmianischen Kardinäle Morone und Polle, sind der Überzeugung: die Kirche kann sich nur durch die Flüssigmachung des Erbes als eine Quelle des Lebens und als Friedensmacht auszeugen: im Geiste der Gebete der frühen Kirche, die da im Opfergebet Serapions (das sich noch im Anhang des Schott-Meßbuches findet) betet: „Wir preisen Dich, unsichtbarer Vater, Du Spender der Unsterblichkeit; Du bist der Urquell des Lebens, der Urquell des Lichtes, der Urquell jeglicher Gnade und jeglicher Wahrheit. Du liebst die Menschen und bist der Freund der Armen; Du läßt Dich mit allen versöhnen und ziehest alle an Dich durch die Einkehr Deines gelieb-

ten Sohnes. Wir bitten Dich: mache aus uns lebendige Menschen.“

Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert bildet Schutthaufen getöteter Hoffnungen. Getötet wurden die Hoffnungen in den Revolutionen und Gegenrevolutionen. Die schrecklichen Vereinfacher, die in unserer Zeit Hekatomben von Menschen getötet haben, sind zuerst und zuletzt schreckensmächtig geworden als Töter der Hoffnung.

Im 19. Jahrhundert strömten aus außerkatholischen und auch nichtchristlichen Kreisen Ströme von Hoffnungen neuen Päpsten entgegen: so vor allem einem Gregor XVl. und Pius IX. Gerade diese Päpste werden wenig später von „Liberalen“, Republikanern, Freiheitlichen und nicht-konservativen Katholiken als Töter der Hoffnungen ersehen und angegriffen.

Das ist das größte Erbe, das Papst Johannes XXIII. persönlich seinem Nachfolger überläßt: er hat ein Potential von Hoffnungen geweckt, gesammelt, das dem Erben zur Verfügung steht. Hoffnungen von Menschen aus allen Rassen, Klassen, Nationen, Religionen, Weltanschauungen hat Johannes XXIII. erweckt und nicht enttäuscht. Bis zu seiner letzten Stunde kämpfte er darum, die so verschiedenen Kräfte der Hoffnung in einer Brennlinse zu sammeln, zu einer Kraft zu verbinden: pacem in terris. Friede den Menschen auf Erden. Friede durch Menschen verantwortet.

Johannes XXIII. hat eben dieses sein persönliches Erbe gleichzeitig allen Katholiken, ja allen Menschen vermacht.

Für das neue Papsttum bedeutet das: seine geschichtliche Wirkmacht wird durch jene Katholiken, die Träger der guten Hoffnung sind, mitbestimmt werden. Ein Papst, und wäre er auch eine überragende Erscheinung, kann sich, wenn er nur von Männern der Angst umgeben ist, schwer zu geschichts-mächtiger Tat entfalten. Ein Papst,

umgeben von Hoffenden, an den guten Sinn guter Zukunft glaubenden Katholiken, wird den Zustrom guter Kräfte erfahren.

In nicht wenigen Kardinälen, Bischöfen und Klerikern, die sich im neuen Klima in den Arbeiten des II. Vatikanischen Konzils erstmalig kennenlernten und nicht ganz selten erstmalig in der eigenen Brust eine Katholizität entdeckt haben, etwa in der Begegnung mit afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Brüdern, ist eine johanneische Kraft der Hoffnung erwacht. Wir dürfen mit ihnen auf eine Fortführung des Konzils hoffen.

Der zweihundertunddreiundzechzigste Nachfolger sieht Flotten auf sich zukommen: Flotten von Schiffen, beladen mit den Hoffnungen von Menschen. In einer der großartigsten visionären Dichtungen des 20. Jahrhunderts, in den „Mysterien“ der Hoffnung und der unschuldigen Kinder des Charles Peguy, sieht Gott-Vater staunend erschrocken Schlachtflotten in heiliger Erhebung gegen sich selbst aufziehen, im Weltmeer, der Weltgeschichte. Diese Schlachtflotten ziehen auf, wie eine große antike Flotte, im Angriff gegen den Groß-König. Gott-Vater sieht sie und spricht: da „nahen sich tollkühn die schweren Triremen, schamlos durchbrechen sie die Brandung meines Zorns“. Gott-Vater kann nichts gegen diese Angriffe unternehmen, denn sie werden von Seinem Sohne selbst angeführt: von Jesus Christus. Es sind Flotten des Gebets, des Opfers, der kühnsten und wagemutigsten Liebe, in der totale Revolte und totale Hingabe verschmelzen (Hans Urs von Balthasar).

Wenn der Nachfolger des Papstes Johannes XXIII. ins volle freie Licht der Welt heraustritt, wird er die Flotten sehen, die auf allen Meeren heute ihm entgegenziehen: schwer beladen mit den Hoffnungen der Menschen, die einen Pontifex maximus suchen: einen Friedensstifter.

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