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Das erste halbe Jahr

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Die legitime Vermutung und leise Hoffnung mancher Beamter des vatikanischen Staatssekretariates, daß mit dem Ableben eines so überaus pc.m ären Papstes, wie es-Pius XII. gewesen ist, die Korrespondenz der katholischen Weltbevölkerung und vor allem aus den deutschsprachigen Ländern etwas abklingen würde, hat sich in keiner Weise erfüllt. Die Deutschen und Oesterreicher haben noch nie so häufig geschrieben wie jetzt an Papst Johannes XXIII. Oft suchen die Briefschreiber ihren Mut mit einem Hinweis auf die Presse zu entschuldigen, die Angelo Roncallis Menschenfreundlichkeit und Güte schildert und nicht müde wird, authentische und erfundene Anekdoten über ihn zu verbreiten. Jemand nannte ihn geradezu „delicia generis hu- mani”, ohne sich zu erinnern, daß dieser Titel einst dem zwar edlen, aber immerhin heidnischen Kaiser Titus gegeben worden war. Zur „Freude des Menschengeschlechts” ist Johannes XXIII. durch seine spontane Herzlichkeit geworden, eine bei ihm zur Tugend erwachsene natürliche Eigenschaft. Sie bricht stets elementar durch, selbst dort, wo Diplomatie, Taktik, scheinbar größere Zurückhaltung erfordern würden. Auf der anderen Seite, versichern die gleichen vatikanischen Diplomaten lächelnd, sind aus dem Staatssekretariat noch niemals zuvor in derart freundlichem Ton gehaltene Telegramme in die Welt gegangen. Die Wandlung des Stils könnte geradezu als der sichtbarste Ausdruck des neuen Pontifikats gelten: wenn unter Pius XII. Vorsicht und Courtoisie vorherrschen mußten, so wird jetzt die Güte groß geschrieben.

Dem Stile Johannes XXIII, entspricht es, die hohen päpstlichen Schulen Roms zu besuchen, in Krankenhäuser zu gehen, sogar in den Kerker. Seine Rede an die Häftlinge dort hat selbst aus taubem Gestein Funken geschlagen, die in der Berufspflicht unempfindlich gewordenen Journalisten gerührt, seine Begleitung überrascht. Kein billiges Trostwort findet ich in dieser Rede, und dpch „ist sie in ihrer ergreif,endgn. h nąęhlįch- keit ein einziger trostreicher Zuspruch. Angelo Roncalli fühlt sich ganz als Bischof von Rom, er möchte die Sorge um die Seelen nicht bloß seinem Generalvikar überlassen. Die Umgebung fragt sich freilich’ besorgt, ob Angelo Roncalli diesen seiner Natur und Tugend entsprechenden Stil auf die Dauer physisch durchhalten wird können und ob über der seelsorglichen nicht die Regierungstätigkeit leiden wird. Schließlich, meint man, soll der Papst vor allem regieren. Pius XII. hat von Anfang an nur regiert und gelehrt; in seinen letzten, müden Lebensjahren freilich hat diese Lehrtätigkeit immer mehr von seiner Zeit und Kraft gefordert, bis er geradezu zu einem Doctor Ecclesiae wurde. Johannes XXIII. teilt die Besorgnisse offenbar nicht, sonst würde er nicht zum Schrecken des Maestro di Camera, der bemüht ist, die Besuche einzuschränken, immer wieder seinen Besuchern beim Abschied freundlich zurufen: „Und kommen Sie bald wieder …” Die Gesundheit Johannes’ XXIII. scheint allerdings ausgezeichnet zu sein, von einem Besuch seines venezianischen Archiatra bei ihm hat man noch nichts gehört, und sicherlich macht er den vier Šuore poverelle di Bergamo — ein nur dort verbreiteter Nonnenorden —, die er Sich aus Venedig mitgebracht hat, wenig Sorga Es sind einfache Frauen, die in der Bergamasker Hausmannskost Bescheid wissen, aber sonst an den Dingen herum in der neuen Umgebung keinen Anteil nehmen.

Einer Gruppe von Venezianern, die ihn bald nach der Krönung aufgesucht haben, hat Angelo Roncalli scherzhaft gesagt: „Ich weiß, Ihr sorgt Euch um mich, Ihr glaubt, daß ich hier große Aengste auszustehen habe, viel studieren und viel arbeiten muß. Aber das ist gar nicht so. In Venedig mußte der Patriarch alles allein entscheiden. Hier habe ich tüchtige Beamte um mich, die wirklich alles verstehen.” In der vatikanischen Bürokratie, nach außen unsichtbar, ist ein bezeichnender Wandel eingetreten: im Gegensatz zu Pius XII., der ein großer Zentralisator war, viele Dinge in die eigene Hand nehmen wollte und nahm, gewährt Johannes XXIII. der Bürokratie eine weitgehende Autonomie. D,es wird schon in der nächsten Zukunft in den Kongregationen, bei Bischofskonferenzen, bei den einzelnen Bischöfen sichtbar werden. Aber auch er selbst nimmt eine Autonomie in Anspruch, die gegenüber dem Werk seiner Vorgänger und vor allem seines unmittelbaren Vorgängers. Die Abschaffung einer Bestimmung Sixtus’ V., welche das Plenum des Kardinalkollegiums beschränkte, die Nichtbeachtung eines Artikels des Kanonischen Rechtes, der die gleichzeitige Zugehörigkeit von nahen Verwandten zum Kardinalskollegium verbietet (nun sind in ihm die Brüder Cicognani vertreten), sind zwei Beispiele dafür, wie weitgehend ungebunden von alten Traditionen er sich fühlt. Merkwürdig ist das Verhältnis Roncallis zu Pius XII. Es ist im allgemeinen nicht zu beobachten, daß Päpste sieh auf ihre unmittelbaren Vorgänger berufen; auch Eugenio Pacelli hat von Papst Ratti nur sehr selten und nur im Vorbeigehen gesprochen. Aber Angelo Roncalli spricht in jeder seiner Reden von Pacelli, er hat es gleich bei der Krönung getan, bei der Besitzergreifung des Laterans und in der Weihnachtsbotschaft. Man spürt, daß er sich an der Größe und an der allgemeinen Anerkennung dieser Größe des Vorgängers auf Petri Stuhl freut. Roncalli fürchtet in keiner Weise, in die Radspuren Pacellis zu kommen. In der Weihnachtsbotschaft konnte man sogar den bestimmten Eindruck’ gewinnen, daß Johannes’ XXIII. einer eventuellen Kanonisierüng Pacellis oder besser noch seiner Anerkennung als Doctor Ecclesiae günstig gegenüberstehen würde. Dabei ist es kein Geheimnis, daß es zwischen Pius XII. und Angelo Roncalli zeitweise gewisse Spannungen gegeben hatte, trotz der sehr hohen Wertschätzung, die Eugenio Pacelli ihm gegenüber empfand. Die Berufung Roncallis als Nuntius in Paris ging auf eine persönliche Entscheidung Pius’ XII. zurück.

Das Bekenntnis zu Pius XII. hat Johannes XXIII. aber in keiner Weise daran gehindert, in der Regierungspraxis ganz andere Wege zu gehen. Man muß sich freilich daran erinnern, daß unter dem verstorbenen Papst ein großer Teil der Arbeit in den Kurienämtern stagnierte; zuerst hatte man den Eindruck, es sei dies auf Reformabsichten Pius’ XII. zurückzuführen; später hat Pacelli Seine Kräfte in der Lehrtätigkeit verbraucht, und die Reform blieb stecken. Nun ist aber das Funktionieren dieser Aemter an gewisse Voraussetzungen gebunden, in dem zentralisierten System des Kirchenregiments vor allem an den ständigen Kontakt der Amtsleiter mit dem Papst. Die Präfekten der einzelnen Ministerien der Kirche, der Kongregationen nämlich, sollen regelmäßig von ihm empfangen werden. Dies war seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Johannes XXIII. hat sofort nach seiner Wahl diese „Visite a tabella”, diese Tabellenaudienzen, nach einem bestimmten Zeitplan festgesetzte Audienzen, wiedereingeführt. Zweifellos, und manche Informationen aus dem Vatikan bestätigen es, hat Angelo Roncalli sehr präzise, Ansichten und Absichten, wie das Schwungrad der Kurie in beschleunigten Gang zu setzen ist. Wir stehen vor Umbesetzungen in der Leitung mehrerer Kongregationen, jener, wo der bisherige Chef wegen Alter oder Krankheit nicht mehr imstande ist, seine Aufgaben voll und ganz zu erfüllen. Welche Personen an ihre Stelle treten sollen, hat Johannes XXIII. bereits durch die jüngsten Kardinalserhebungen — auch die neuen Kirchenfürsten sind von ihm selbst bestimmt und ausgewählt worden, in einigen Fällen entgegen den Meinungen seiner nächsten Berater — zu erkennen gegeben. Durch diese Ernennungen sind drei hohe Posten in der Kurie freigeworden: die Sekretariate’ ‘der ’Konzil- urid b der Stndieiikon ’ gregation und das Dekanat des Rota-Gerichtes:. Roncalli hat keine Zeit versäumt, sie sofort wiederzubesetzen.

Die Entschlußfreudigkeit des gegenwärtigen Papstes hat seine Umgebung in der Kurie immer wieder verwundert; sie war es in den fast zwanzig Jahren der vorangegangenen Pontifikats anders gewöhnt gewesen. Eugenio Pacelli hat sich wenig beraten lassen, seine Entscheidungen immer auf Grund ganz eigener Erkenntnisse gefällt, aber er hat unter der Verantwortung auch ständig gelitten und mit ihr gekämpft. Angelo Roncalli hat ein eigenes und selbständiges Bild vom Papsttum und zeigt eine große Verantwortungsfreude. Er berät sich viel mit anderen, entscheidet aber dann sehr rasch — und oft in einem sehr persönlichen Sinne. Die Klarheit der Ideen des neuen Papstes ist jedoch überraschend; seine hohe Stellung müßte ihm ungewohnt sein, 6r hat sich aber mit großer Selbstverständlichkeit in sie gefunden. Die Rückkehr zu Altem, Bewährtem, hat manche veranlaßt, ihn konservativ zu nennen; doch widerspricht dem die Raschheit der Entschlüsse und die Unterstreichung der Amtsgewalt seiner hohen Mitarbeiter und ihrer Würde. Die hohe Beamtenschaft der Kurie soll mehr als bisher zu sagen haben, aber sie soll auch nach außen hin mit den Abzeichen ihrer Würde ausgestattet sein. Unter Papst Pius XII. war nicht einmal der Pro-Staatssekretär Bischof gewesen; unter Johannes XXIII. sind selbst die Substituten im Staatssekretariat Erzbischöfe geworden.

In der Weltöffentlichkeit richtet sich das Hauptinteresse allerdings nicht auf die Angelegenheiten des kirchlichen Regiments, man fragt vielmehr nach der neuen Linie, im politischen Sinne, die der Papst einzuschlagen gedenkt. Die bisherigen Reden und Entscheidun- gen-’des Papstes haben allerdings wenig Stoff für Vermutungen “gegeben , am ehesten noch die„ daß ürir’in Angelo Roncalli keinen politisch betonten, sondern eher einen religiös orientierten Oberhirten zu sehen haben. Diese Unterscheidung ist jedoch unsinnig: jeder Papst wird poli- tisch oder religiös, wie die politischen oder religiösen Probleme an ihn herantreten und eine Lösung fordern. In seiner Weihnachtsbotschaft findet sich allerdings ein politischer Hinweis:, Johannes XXIII. sprach von der Unfreiheit in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang (ein Ausdruck, den Pius XII. niemals gebraucht hat). Doch dieser Unfreiheit setzt er die Einheit des Apostolats entgegen, die Einheit der Priester mit ihren Bischöfen also, der Bischöfe untereinander, ihre Einheit mit dem Papst. Dem kommunistischen Regime hat er eine rein kirchlich-religiöse Verteidigungslinie gegenübergestellt, eine spirituelle Einheit, und nicht etwa die Einheit des Westens oder das einmütige Vorgehen aller Gutgesinnten.. Er beklagte, die Unfreiheit feststellen zu müssen, „wie nachsichtig immer man sein möge”. Es, i,st dies eine milde Sprache, selbst in einer Weihnachtsbotschaft, und einige Kommentatoren wollten darin bereits eine neue Nuancierung der Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den kommunistischen Ländern sehen. Diese Annahme schien darin eine Bestätigung zu finden, daß die diplomatischen Vertreter Exilpolens und Exillitauens nicht mehr auf gef ordert wurden, mit den übrigen akkreditierten Diplomaten dem neuen Staatsoberhaupt und Haupt der Kirche die Beglaubigungsschreiin Amerika, England und anderen Ländern. Es war das erstemal, daß eine Maßnahme des Heiligen Stuhles seit der Wahl Johannes’ XXIII. auf eine gewisse Kritik gestoßen ist. Es hieß in der Note, daß der polnische und litauische Vertreter am Heiligen Stuhl zu dessen größten Bedauern sich nicht in der Lage befunden hätten, Dokumente vorzuweisen, denen im Sinne des internationalen Rechtes diplomatischer Wert zukäme. Das ist sicher richtig. Richtig ist aber auch, daß eine Veränderung nicht in den Verhältnissen Polens und Litauens eingetreten ist, sondern auf dem Papstthron, daß die Beglaubigungsschreiben’ des Doyen Kasimir Papėe und des Gesandteil Stanislaus Girdvainis entweder schon vor dem Wechsel des Pontifikats ihren Wert verloren haben oder daß man ihnen jetzt nicht geholfen hat, gültige Dokumente zu finden.

Diese Veränderung ist wahrscheinlich ohne Zutun des Erzbischofs von Warschau, des Kardinals Wyszinski, eingetreten, muß ihn jedoch mit einer gewissen Genugtuung erfüllen, da sie seine Position erleichtert. Die Begründung der Veränderung mit juristischen Erwägungen ist hieb- und stichfest, aber die Frage drängt sich doch auf, ob es damit sein Bewenden haben sollte. Es ist anzunehmen, daß dem Heiligen Stuhl damit kein bestimmtes Kalkül vor Augen schwebte, daß er keine konkrete Folgen erwartet, sondern daß er mit einer Art politischer Neugierde, wenn der Ausdruck .gestattet ist, beobachten möchte, welches die Reaktionen in den betreffenden Ländern unter kommunistischem Regime sein werden, ob die sachte Anwärmung der Atmosphäre dazu beiträgt, die Lage der Katholiken in Polen und Litauen zu erleichtern oder nicht. Dies, aber nicht mehr, kann aus den Maßnahmen geschlossen werden.

Angelo Roncalli, der während seiner diplomatischen Karriere Gelegenheit gehabt hat, die Verhältnisse in den von Rom getrennten Ostkirchen aus nächster Nähe zu studieren, hat die eventuelle Union mit der römischen Kirche zu seinem Herzenswunsch gemacht und in der Ankündigung der Einberufung eines Konzils zum Ausdruck gebracht. Diese Union ist ihm ein großes Anliegen, aus religiösen Gründen, denn er leidet darunter, daß das Gebet des Christus unmittelbar vor seinem Tode nach der Einheit aller, „ut omnes unum sint”, von den Christen mißachtet bleibt. Johannes XXIII. spürt zutiefst diese Zerrissenheit und richtet daher an die Ostkirchen einen „ehrenvollen Appell”. Er bezieht sich vor allem auf die Kirchen Griechenlands und des Mittleren Orients, die zwar zahlenmäßig geringeres Gewicht haben als die slawische Orthodoxie, aber historisch hochbedeutsam sind. Das Verhältnis zwischen Katholizismus und evangelischem Christentum möchte er nicht in einem Zug umreißen. Er steht also eigentlich außerhalb der klassischen ökumenischen Idee.

Eine kluge Ordensfrau hat dieser Tage gesagt: „Pius XII. war ein Mensch, der Papst geworden war: Johannes XXIII. ist ein Papst, der Mensch geworden ist.”

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