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Der Hunger: eine bleibende Schande für die gesamte Menschheit

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In einer Welt des Überflusses, der Butter- und Fleischberge, der planetaren Handelsverflechtungen ist das Fortbestehen von Hunger in zahllosen Regionen ein Skandal. Ein vatikanisches Dokument nimmt Stellung zu diesem Mißstand.

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In einer Welt des Überflusses, der Butter- und Fleischberge, der planetaren Handelsverflechtungen ist das Fortbestehen von Hunger in zahllosen Regionen ein Skandal. Ein vatikanisches Dokument nimmt Stellung zu diesem Mißstand.

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Wenige Wochen vor dem Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen in Rom hat „CorUnum”, das „Entwicklungsministerium” des Vatikans, eine Stellungnahme mit dem Titel „Der Hunger in der Welt. Eine Herausforderung für alle: Solidarische Entwicklung” veröffentlicht. Der Vertreter des Vatikans bei der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, ist der österreichische Kurien-Erzbischof Alois Wagner, der selbst früher Vizepräsident von Cor Unum war. Das neue Dokument wird ihm für seine Interventionen beim Welternährungsgipfel eine wertvolle Stütze sein, wenngleich man von Wagner selbst zum Thema schon viel deutlichere Worte gehört hat.

Die Einführung zitiert unmißverständlich das Zweite Vatikanische Konzil: „Speise den vor Hunger Sterbenden, denn ihn nicht speisen heißt, ihn töten.” Und sie verbindet diese Aussage mit der ewig sich wiederholenden Frage Gottes an Kain und seine Nachkommen: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.”

In der Analyse der Gründe für den Hunger in der Welt bleibt das Dokument zum Teil sehr allgemein, mitunter naiv, widersprüchlich und unvollständig. Die Darstellung der Hungerproblematik, die zum Beispiel in Österreich Anfang der achtziger Jahre im Bahmen der Kampagne „Hunger ist kein Schicksal” vom Österreichischen Informationsdienst für Entwicklungspolitik und anderen, auch kirchlichen, Nicht-Begierungsorganisationen verbreitet wurde, war schon damals viel genauer, verständlicher und überzeugender.

Dem Vatikanischen Dokument bleibt das Verdienst, auf das Problem der Verschuldung der Entwicklungsländer und der Strukturanpassungsprogramme zu ihrer Bekämpfung hinzuweisen, ohne allerdings die konkreten Zusammenhänge mit der Ernährungssituation der Armen zu erklären. Verwirrend ist auch die Vermischung von Analyse und Bewertung von Zuständen und bestimmten Handlungsweisen, was bei Journalisten unserer Medien mit Recht kritisiert wird.

Trotzdem kommt es in diesem Abschnitt zu einigen bemerkenswerten Aussagen. Unter anderem werden die Politiker der Entwicklungsländer auf die von ihnen zu verantwortenden Ungleichgewichtigkeiten hingewiesen. Die Industrieländer werden aufgefordert, die Kriterien für ihre Haltung gegenüber Entwicklungsländern zu hinterfragen, insbesondere, ob sie durch ihre Entwicklungshilfe nicht jahrelang falsche Zeichen gesetzt hätten.

Rei der ethischen Rewertung der Problematik wird die Stellungnahme des Vatikans grundsätzlicher und richtungsweisend. Für die Reseiti-gung des Hungers wird die Entwicklung des Gemeinwohls als ethische Voraussetzung gesehen: Das bedeutet soziale Gerechtigkeit, Zugang alle

Menschen zu den Reichtümern der Erde, gelebte Solidarität und Subsidiarität, Friede und Achtung der Umwelt.

Die Kirchliche Soziallehre als ganze muß das Handeln der Verantwortlichen bestimmen. Eingemahnt wird eine „Nächstenliebe, die von einem verantwortungsvollen Gewissen zeugt, das weder vor seinen eigenen Grenzen noch vor der gewaltigen Herausforderung zurückschreckt, weil die Liebe zu den Menschen es antreibt”.

Die Mißachtung des Gemeinwohls führt zu „Strukturen der Sünde”. Was das ist und wie es dazu kommt, hat der aufmerksame Leser in der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis” schon einsichtiger und überzeugender vermittelt bekommen. Den „Strukturen der Sünde” wird die „Zivilisation der Liebe” entgegengesetzt.

In diesen Teil fallen die wichtigsten Aussagen des Dokuments: Ohne Berücksichtigung der Sichtweise der Ärmsten in der Gesellschaft läuft eine Wirtschafts- und Sozialpolitik Gefahr, in einer Sackgasse zu enden -was bei der Verschuldung der „Dritten Wplt” Qphnn passiert ist.

Die Bolle der Vermittlungsinstanzen - und damit auch die der Kirchen - ist es, die Sichtweise, Bedürfnisse und Wünsche der Armen zur Kenntnis zu nehmen und ihnen Gehör zu verschaffen. Die Pflicht, jedem das gleiche Zugangsrecht zum nötigen Existenzminimum zu gewähren, bedeutet nicht nur die moralische Verpflichtung zum Teilen mit den Ärmsten, sondern auch deren Eingliederung in die Gemeinschaft selbst, die ohne sie zu verarmen droht.

Es wird unterstrichen, daß der Friede nicht das Ergebnis eines Gleichge-F'OTO REIT F.II wichts der Kräfte, sondern eines Gleichgewichts der Bechte ist. Er ist auch der Sieg der Gerechtigkeit über die ungerechten Privilegien.

Für die Autoren des Dokuments gehen Demokratie und Entwicklung Hand in Hand. Die Rolle von Nicht-Regierungsorganisationen wird daher positiv gesehen und für die Frauen werden bessere Voraussetzungen (vor allem im Rildungsbereich) für ihre Teilnahme an den Entwicklungsprozessen gefordert.

Im dritten Hauptteil werden Forderungen aufgestellt, deren Erfüllung die Hungerproblematik verringern könnten: Die reichsten Länder des Westens tragen besondere Verantwortung bei der Reform der Weltwirtschaft.

Trotz (relativer) Armut im Norden wäre eine Haltung verwerflich, die Armen im Süden an die zweite Stelle zu setzen. Allerdings werden auch die Entwicklungsländer gemahnt, ihrerseits die erste Verantwortung zu übernehmen und die

Hauptarbeit zu leisten. Wie dies allerdings angesichts der laufenden globalen Entwicklungen möglich sein soll, bleibt offen.

An dieser und auch an anderen Stellen im Dokument wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in den reichen Ländern die öffentliche Meinung für die Nöte der Ärmsten - ob nahe oder ferne - sensibilisiert und die Unterstützung der Bevölkerung für die Lösung der Hungerproblematik gewonnen werden muß.

„Menschliche Entwicklung entsteht nicht durch wirtschaftliche Mechanismen, die von allein funktionieren und die es einfach aufrechtzuerhalten gilt. Die Wirtschaft wird menschlicher, ... wenn sie sich vom bestmöglichen Dienst am Gemeinwohl leiten läßt.” Dazu müssen unter anderem die Austauschverhältnisse für Waren gerechter festgelegt, das Schuldenprogramm gelöst, die staatliche Entwicklungshilfe neu überdacht und aufgestockt und Agrarreformen durchgeführt werden.

So wird der Kampf gegen den Hunger zu einem Imperativ im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2000. Ausgehend von der alttestamentarischen Tradition eines Jubeljahres alle 50 Jahre (mit Schuldenerlaß, Pfandrückgabe, Sklavenfreisetzung), weist das Dokument auf die öffentlich-rechtliche Bedeutung dieses Vorganges hin. Vor allem die soziale Hypothek, die mit dem Becht auf Privateigentum in Zusammenhang steht, sei zu berücksichtigen. Wir werden aufgerufen, uns von Gott persönlich ansprechen zu lassen, eine kritische Haltung gegenüber den herrschenden Modellen anzunehmen und der Logik der „Strukturen der Sünde” zu widerstehen. Entsprechende Aktivitäten sollen in die Vorbereitung der Jubelfeier im Jahre 2000 eingebracht werden.

Im letzten Kapitel wird verdeutlicht, daß der Mensch Christus selbst fallen läßt, der den fallen läßt, der nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Es wird besonders betont, daß die Christen die Armen nicht abschieben und auf den Himmel vertrösten dürfen, weil eine solche Mißachtung der Armut „ganz und gar teuflisch wäre”.

Der Mensch ist aufgefordert, sein Handeln zu ändern und sich „kompromißlos, umfassend und weitreichend” zu erneuern. Er soll seinen Blick nicht mehr nur auf seine eigenen Interessen richten, sondern schrittweise seine Denk-, Arbeits- und Lebensweise ändern und lernen, die Liebe im Alltag zu leben.

Insgesamt gesehen ist das neue Vatikanische Dokument über den Hunger in der Welt keine Offenbarung. Aber es mahnt die Mitverantwortung der Christen und aller Menschen guten Willens unmißverständlich ein, das Problem zu lösen.

Es eröffnet der Katholischen Soziallehre keine* radikalen neuen Dimensionen, aber es verstärkt und bekräftigt Positionen, für die es außerhalb der Kirche nicht immer nur Lob gegeben hat. In der Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000 ist die Stellungnahme durchaus ein wertvoller Versuch, die Positionen der Katholischen Kirche zur Hungerproblematik dem Bewußtsein der Öffentlichkeit zu verdeutlichen und zu einem entsprechenden Handeln anzuregen.

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