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Schwere Hypothek

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Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Die neue Sozialenzyklika wird eine heftige Diskussion auslösen. Die einen werden sie als zu radikal, die anderen als zu fromm empfinden.

Einige werden sie als wirtschaftsfremd bezeichnen, andere werden sie als das lange erwartete eindeutige Wort der Kirche begrüßen.

Man darf nicht vergessen: Das neue Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“ („Die soziale Sorge der Kirche“) ist bewußt als Würdigung, aber auch als Fortschreibung der Enzyklika Pauls VI.über die Entwicklung der Völker gedacht. Sie wurde im März 1967 veröffentlicht.

Johannes Paul II. zieht nach 20 Jahren eine sehr harte Bilanz. Zweifellos lassen sich auch einige positive Tatsachen feststellen: ein wachsendes Bewußtsein für die Menschenrechte und für den Frieden; eine rege Tätigkeit internationaler Organisationen; eine neue Verantwortung für die Umwelt und schließlich der wirtschaftliche Erfolg einiger Entwicklungsländer.

Aber all das ändert nichts an der grundsätzlichen Feststellung: Die Gesamtsituation der Entwicklungsländer hat sich in den vergangenen 20 J ahren wesentlich verschlechtert. Der Abgrund zwischen den Entwicklungsländern auf der einen Seite und den „überentwickelten“ Industrieländern auf der anderen Seite hat sich vertieft und verfestigt. Diese Tatsache ist „mit der Würde des Menschen unvereinbar“.

Vielleicht liegt gerade hier das entscheidend Neue in der Enzyklika Johannes Pauls IL: Zweifellos hat „das Drama“ der Entwicklung eine wirtschaftliche, soziale und politische Dimension. Aber gerade hier setzt die Frage des Papstes an: Handelt es sich bei diesen Dimensionen um unveränderliche Mechanismen, die nach völliger Eigengesetzlichkeit ablaufen und in die man daher nicht eingreifen darf?

Das würde bedeuten: Die Entwicklung der Völker wird zuletzt nicht von Menschen, sondern von Mechanismen entschieden.

Hier wird der Papst sehr konkret. Er führt einige dieser sogenannten Mechanismen an, die das Werk der Entwicklung nicht fördern, sondern verhindern. Das erste Beispiel nimmt er aus dem Bereich der Wirtschaft, wo Mechanismen bestehen, die in einer geradezu automatischen Weise die einen bereichern und die anderen in der Armut belassen.

Daraus zieht Johannes Paul II. die nüchterne Folgerung: eine radikale Änderung dieser Situation kann nicht durch eine noch so gut gemeinte Entwicklungshilfe erfolgen, wie wichtig sie auch im Einzelfall sein mag. Es braucht eine tiefgreifende Reform der wirtschaftlichen Strukturen und Mechanismen.

Mit gleicher Eindeutigkeit analysiert die neue Enzyklika die politischen Strukturen. Hier ist die Tatsache der beiden großen Blök-ke Ost und West nicht zu übersehen. Sie werden nicht zuerst durch den Gegensatz der politischen Ziele bestimmt, sondern durch die dahinterliegenden Ideologien des liberalen Kapitalismus und des marxistischen Kollektivismus.

Diese Weltanschauungen sind es, welche die politischen Systeme so starr und damit so unfähig machen, aus dem eigenen Egoismus auszubrechen. Beide Systeme kennen nur ein Ziel: ihre Interessen- und Sicherheitszonen auszuweiten und andere Völker dafür einzuspannen.

Damit entstehen neue Formen eines Neokolonialismus. Damit werden die Entwicklungsländer, ob sie wollen oder nicht, in den Wahnsinn der Rüstung und des Waffenhandels hineingezogen und müssen ihre eigene Entwicklung hintanstellen.

Johannes Paul II. weiß genau: Uber die vorausgehenden wirtschaftlichen und politischen Analysen läßt sich endlos diskutieren, solange man auf der Ebene der Wirtschaft und der Politik verbleibt. Man wird dabei nie über die Mechanismen hinauskommen. Darum weist der Papst immer wieder, vor allem aber im Abschnitt über die theologische Sicht der aktuellen Probleme auf die Kernfrage hin: Strukturen und Mechanismen sind das Ergebnis menschlicher Entscheidungen.

Verhindern bestimmte Strukturen und Mechanismen das Werk der Entwicklung, dann steht dahinter ein schuldhaftes menschliches Handeln. Im Fall der heutigen wirtschaftlichen und politischen Situation sind es die Haltungen der grenzenlosen Habsucht und der grenzenlosen Herrschsucht.

Und der Papst zögert nicht, diese Haltungen und Handlungen mit ihrem „wahren Namen“ zu bezeichnen: Sünde. Zuerst Sünde im persönlichen Handeln und als Folge davon „Strukturen der Sünde“.

Sie üben einen solchen Zwang auf die Entwicklungsländer aus, daß es kaum möglich ist, sich ihnen zu entziehen. Darum heißt für Johannes Paul die Grunddiagnose: Das Problem der Unterentwicklung ist nicht zuerst ein wirtschaftliches oder politisches Problem, es ist zuinnerst moralischer Natur.

Natürlich nehmen auch die Entwicklungsländer selber teil an dieser Schuld. Aber es besteht kein Zweifel: Die Hauptanklage trifft in voller Schärfe die Industrieländer „der ersten und zweiten Welt“.

Weil nach „Sollicitudo rei socialis“ Strukturen und Mechanismen nicht von unveränderlichen Naturgesetzen bestimmt werden, sondern vom freien Handeln des Menschen, muß es die Möglichkeit des Ausbrechens und der Reform geben. Hier setzt der geradezu überraschende Optimismus des Papstes an. Und es ist bezeichnend, daß er diesen Appell und diesen Optimismus nicht nur gegenüber gläubigen Menschen vertritt.

Auch der nicht ausdrücklich glaubende Mensch ist zur Einsicht fähig, daß die Widersprüche in der gegenwärtigen Entwicklung der Völker letztlich auf das Handeln der Menschen zurückgehen. Und das kann für ihn der Beginn einer radikalen Bewußtseinsveränderung werden.

Für gläubige Menschen aber hat dies sehr wesentlich mit der Uberwindung der Sünde und damit mit einer Bekehrung zu tun. Dies wird sich in einer Haltung ausweisen, die zur Habsucht und Herrschsucht im Gegensatz steht, nämlich jener der „tätigen Solidarität“.

Sie wird sich für eine Entwicklung der Völker engagieren, die keine Kopierung der materialistischen Konsumgesellschaft darstellt, sondern „den ganzen und jeden Menschen“ im Auge hat, das heißt sein materielles, soziales und geistig-religiöses Mehr-Mensch-Sein.

Diese Sicht einer umfassenden Entwicklung wird sich nicht nur auf den Menschen beschränken. Sie wird auch die Natur und die menschliche Lebenswelt einschließen. Darum ist Solidarität der „neue Name für Frieden“.

Es fällt nicht schwer, den Schlußappell des Papstes zu verstehen. Wenn das Problem der Entwicklung heute mehr denn je eine Frage der Mobilisierung moralischer Kräfte geworden ist, dann ergibt sich von selber, daß dafür zuerst jene Institutionen angesprochen sind, die einen direkten Auftrag dazu haben: die Religionen und Kirchen.

Damit hat der Papst, wie er selber sagt, für das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine schwere Hypothek auf sich genommen. Diese Aufgabe ist nur im ökumenischen Verbund zu bewältigen. Darum spricht die Enzyklika auch die Juden, den Islam und die großen Religionen der Welt an. Aufgrund der Analyse der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ gibt es dazu keine andere Alternative.

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