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Christliche Visionen für Europa

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Zur Pastoraltagung „Christliche Visionen für ein offenes Europa” (Wien-Lainz, 28. bis 30. Dezember 1993) meldet sich Paul Michael Zulehner zu Wort.

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Zur Pastoraltagung „Christliche Visionen für ein offenes Europa” (Wien-Lainz, 28. bis 30. Dezember 1993) meldet sich Paul Michael Zulehner zu Wort.

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Die Sehnsucht der Menschen geht auf ein Leben in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Ein solches aber wird es in Europa nur dann geben, wenn es in seinen Bevölkerungen ein ausreichendes Maß an belastbarer Solidarität gibt. Wie sollen anders die großen anstehenden Herausforderungen gemeistert werden: die vorhersehbaren Wanderbewegungen; die Neuverteilung der Lebenschancen zwischen Frauen und Männern; das Lebensrecht von Ungeborenen und Sterbenden; der gerechte Zugang zu Bildung und Arbeit oder auch die Sorge um eine bewohnbare Welt zumal für die nächsten Generationen?

Der Vorrat an belastbarer Solidarität, die sich stark macht für eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen unter allen, ist in den europäischen Gesellschaften heute gering. Zwar wissen die Menschen darum, daß Teilenlernen zu den obersten Erziehungszielen gehört. Weit verbreitet ist aber eine angstbesetzte Privatisierung von Glück und Unglück: Jeder soll seine Probleme selbst lösen. Wichtig ist, daß der Mensch glücklich wird, wie, das ist seine Sache.

Wie arm Europa an solch einer belastbaren Solidarität ist, zeigt auch die Entwicklung der Politik. Denn für eine solidarische Politik sind zur Zeit in vielen Bevölkerungen keine Mehrheiten mehr zu finden. So geraten die politischen Parteien vor die Alternative, entweder eine solidarische Politik zu machen oder an der Macht zu bleiben. Selbst jene Parteien, in deren Programm Solidarität das Herzstück ist, betreiben zunehmend unsolidarische Politik. In den reichen Provinzen Europas werden zur Zeit soziale Festungen gebaut, gefallene Mauern werden durch neue ersetzt. Eben eine solche Politik mindert nicht die ungerechte Verteilung von Lebenschancen in Europa, sondern verschärft sie. Damit ist sie langfristig friedens- und freiheitsge-fährdend.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach dem Beitrag christlicher Kirchen. Ihr zentrales Thema bei der Inkulturation des Evangeliums in ein gewandeltes Europa wird die Mehrung der Solidarität sein. Aber wie geht das?

Ein naheliegender, weil einfacher Weg ist der moralische Appell. Kirchen sagen dann: Seid solidarischer! Ein solcher Weg wird nicht weiterführen, so sehr die christlichen Kirchen zur Zeit auf ihn setzen.

Zielführender ist es, nach jenen kulturellen Kräften zu suchen, welche desolidarisieren. Dabei stößt die Forschung auf Angst in mehreren Variationen.

I Es ist die Angst jenes Menschen, der maßlose Glückswünsche im Rahmen angestrengter Diesseitigkeit realisieren will und dadurch verurteilt ist, seine eigenen Chancen vorrangig zu verfolgen; I Desolidarisierend wirkt jenes Belohnungsstreben, in dessen Rahmen die Angst, die aus fehlendem Selbstwertgefühl entspringt, durch Güter und Karriere ersetzt wird, wobei beide Güter knapp sind und deshalb dem eigenen seelischen Haushalt der Vorzug gegeben wird; I Es ist schließlich jene Angst, die aus der Enge des eigenen schwachen Ichs entspringt und die unfähig macht, selbstlos zu sein. Solidarisierend hingegen wirkt jene Religiosität, die aus dem Bannkreis der Angst überführt in den Umkreis des Vertrauens;

I Entängstigung fällt dem Religiösen zu, wenn ihm geschenkt wird, angesichts der drohenden psychischen Obdachlosigkeit im Geheimnis (das wir zögernd Gott nennen) daheim sein zu können.

Sind Europas Kirchen dafür gerüstet, desolidarisierende Kräfte zu mindern und vor allem jene Religiosität der Person zu mehren, die entängstigt und damit freier macht zu belastbarer Liebe? Fragen lassen sich stellen, die zugleich die Richtung weisen, in die sich kirchliche Praxis entwickeln könnte:

Aufgabe und enorme Chance

Was geschieht heute, um den Menschen freizumachen aus seiner angestrengten Diesseitigkeit? Welche Wege gibt es, die enge Welt aufzubrechen, die Menschen raumzeitlich mit ihrer Seele bewohnen? Wie steht es, anders formuliert, um die Themen Vergänglichkeit, Tod, Hoffnung über den Tod hinaus, Aufer-weckung?

Wie lehren wir Menschen, innerlich so reich zu sein, daß wir nicht über Ersatzgüter unsere Armut wettmachen müssen? Nicht der Reichtum macht uns unsolidarisch, sondern seine Umdeutung zum Ichersatz. Wie stehen wir zur Stärkung jener Freiheit, ohne die es keine Liebe gibt? In Europas Kirchen herrscht schon Jahrhunderte lang Skepsis gegenüber der Freiheit. Wer aber belastbare Solidarität will, kommt um die Freiheitsförderung nicht herum: „Die universale Solidarität erfordert als unerläßliche Voraussetzung die Autonomie und freie Verfügbarkeit über sich selbst.” (Johannes Paul IL, Sollicitudo rei socialis, 45)

Schließlich: Was geschieht in den Kirchen, daß die persönliche religiöse Erfahrenheit der Menschen wächst? Die Kirchen hindern sich an einer solchen mystagogischen Arbeit selbst, weil sie durch empirisch unhaltbare Vorurteile die Beziehung zu den Menschen belasten: Sie sagen den Menschen in Europa nach, sie seien säkularisiert und gottlos, während sich fast 60 Prozent selbst religiös nennen und nur fünf Prozent sich als Atheisten bezeichnen. Sie sagen ihnen Unkirchlichkeit nach, obwohl 71 Prozent Mitglied einer christlichen Kirche sind. Natürlich wandelt sich in freiheitlichen Kulturen das Verhältnis der Menschen zur Kirche. Das würde aber vor allem einen neuen Umgang der Kirchen mit Menschen verlangen, die auch in religiöser Hinsicht einen hohen Freiheitsanspruch haben und jegliche Form überkommener Fremdsteuerung ablehnen.

Die Kirchen in Europa haben objektiv gesehen eine große Aufgabe und eine enorme Chance. Aber wahrnehmen werden sie diese nur, wenn sie sich in „weihnachtlicher Weise” in die moderne Kultur „ein-

Der Autor ist Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Wien und mit II Denz Verfasser des Werkes „Wie Europa lebt und glaubt Europäische Wertstudie”, Düsseldorf1993

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