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„Mutter und Lehrerin”

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Vorbemerkungen

Ein päpstliches Rundschreiben zu Fragen der gesellschaftlichen Ordnung hat einen dreifachen Charakter:

• es ist eine sachliche Analyse, die eine gegebene sozialgeschichtliche Situation (Sitten, Zustande und Einrichtungen) in ihren repräsentativen Bereichen zum Gegenstand hat, es ist

• eine Konfrontation des Sachbefundes, welcher der Analyse entstammt, mit den Normen des Sittengesetzes und enthält

• einen dem geprüften Sachverhalt angemessenen Katalog von Forderungen, die — im Interesse der Wahrung des Sittengesetzes — auf die Reparatur einer als gestört angesehenen gesellschaftlichen Ordnung wie auf die Konstitution von reformatorischen Maßnahmen angelegt sind.

Weil in einer geschichtlichen Phase und für diese formuliert, indizieren die Sozialenzykliken die dem Heiligen Vater wesentlich scheinenden Ereignisse in den Regionen der Gesellschaft. Aus diesem Grund gibt es nicht d i e Sozialenzyklika, sondern nur das der Vernunft und der Offenbarung entnommene Sittengesetz als bleibende Norm, die in Proportion zur jeweiligen Wirklichkeit gebracht wird. Die Äußerungen des kirchlichen Lehramtes sind daher, weil eben mit geschichtlich gebundener Aussage versehen, nur auf eine bestimmte, wenn auch weiträumige historische Situation bezogen, und haben demgemäß, gleichsam vom Datum der Proklamation an, soweit sie zeitbezogene Aussage sind (und sein wollen), eine abnehmende Gültigkeit. Der Befund über das, was wir etwa in der Sozialgeschichte „Kapitalismus” nennen, gilt daher nicht für alle Zeiten, weil sich eben der Sachverhalt „Kapitalismus” so weit wandelt, daß schließlich an Hand des über die Zeiten hin güItigqjA Sittengesetzes ein neuer Befund geptgq. werden muß. Weil nun eine Sozialenzyklika einer „Absterbeordnung” unterworfen ist, wird in Abständen, welche mit dem Ablauf bestimmter Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung markiert sind,

eine neue Enzyklika die vorangegangenen Sozialenzykliken ergänzen. Trotzdem ist jede päpstliche Proklamation zu sozialen Fragen — das sollten die überlegen tuenden Kritiker aus dem liberalen und marxistischen Lager bedenken — ein moralischer Anruf, eine Aufforderung umzudenken und in der Welt dementsprechend zu verfahren, richtet sich doch auch eine Sozialenzyklika an den Einzelmenschen: „Die Kirche löst die soziale Frage, insofern diese auch eine religiöse und sittliche Frage ist...” und da, „wo verletzte Liebe und mißhandelte Gerechtigkeit.. in einer konkreten Gesellschaftswirtschaft — zum Himmel schreien” (A. M. Knoll).

Die neue Enzyklika

Die Sozialenzyklika Johannes XXIIL, veröffentlicht zum 70. Jahrestag der Herausgabe der ersten klassischen sozialen Enzyklika „Rerurn novarum”,

trägt dem Gedenktag dadurch formal Rechnung, daß sie mit dem Datum des 15. Mai 1961 ausgewiesen ist.

Ihrem Inhalt nach ist die Enzyklika viergegliedert,

• in einen Rückblick auf die bisher erschienenen zwei Sozialenzykliken,

• in eine auf die Gegenwart bezogene und dementsprechende Aktualisierung von Sozialprinzipien, die bereits dem Grunde nach in den bisherigen Enzykliken Gegenstand lehramtlicher Äußerungen waren,

• in „Neue Seiten der sozialen Frage”

• und in einen allgemein pastoral gehaltenen Abschluß.

Gegenstand der Interpretation ist nicht mehr die sich konstituierende Industriegesellschaft („Rerum novarum”), auch nicht die Epoche der Krise des Kapitalismus („Quadragesimo anno”), sondern das Ganze der W e 11- gesellschaft, wenn auch unter Bedachtnahme auf jene Regionen oder soziale Schichten, in denen nicht von einer fast völligen Absenz von Not gesprochen werden kann. Jedenfalls bietet das Rundschreiben in seinem Kern einen gesellschaftlichen Gesamtbefund.

Rückblick

Einleitend verweist der Heilige Vater auf die Tatsache, daß die Kirche unentwegt die Fackel der Liebe hochgehalten und sich daher auch um die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Völker gekümmert habe, so auch Leo XIII. in „Rerum novarum”, mit welcher Enzyklika gleichsam Linien entworfen wurden, an denen sich das Geflecht des staatlichen Sozialrechtes der Gegenwart ausgerichtet hat.

Der oberste Maßstab für das Handeln in der Welt und für ihre Einrichtungen sind für Pius XL nicht der freie Wettbewerb, die Akkumulation von wirtschaftlicher Macht oder das jeweilige nationale Prestige, sondern die soziale Gerechtigkeit und die Liebe zum anderen. Mehr noch: Das Recht des Menschen, die Erdengüter zu nutzen, steht vor jedem anderen Recht, auch vor dem Eigentumsrecht, dessen iubsidiäre Bedeutung auf diese Weise rerausgestellt wurde.

Die gewandelte Gesellschaft

Angesichts der Veränderungen, welche sich in den letzten Jahrzehnten in den einzelnen Staaten und in den Beziehungen derselben untereinander vollzogen haben, hält der Heilige Vater es für notwendig: „die von unseren Vorgängern dargelegten Lehrstücke zu bekräftigen, bestimmter zu fassen und zugleich, was die Kirche in bezug auf die neuen und wichtigsten Gegenwartsfragen denkt, weiterzuführen.”

In seinem Rundschreiben geht der Heilige Vater davon aus, daß die Wirtschaft eine Schöpfung höchstpersönlicher Initiative darstellt. Es gibt aber kein isoliertes Wirtschaften, sondern nur ein solches im Verband. Darüber hinaus ist es — trotzdem die Wirtschaft gesellschaftlich vollzogen wird — der öffentlichen Gewalt aufgegeben, ausgleichend tätig zu sein, sei es zwischen den Produktionszweigen, den einzelnen Regionen des staatlichen Bereiches oder auf Weltebene. Die Intervention der Gebietskörperschaften muß aber auch im Interesse der Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit und konjunkturstabilisierend vorgenommenwerden. Das „Gegenwärtigsein” des Staates in der Wirtschaft darf jedoch nicht zu einer ungebührlichen Begrenzung des einzelmenschlichen (spontanen) Handelns führen: „Wo die persönliche Initiative des einzelnen fehlt, da herrscht pölitisch die Tyrannei.” Aber auch: „Wo dagegen das pflichtgemäße Wirksamwerden des Staates ganz oder teilweise entfällt, da herrscht unheilbares Durcheinander, Ausbeutung der Schwachen durch von Skrupeln wenig gehemmte Stärkere ...”

Der Heilige Vater spricht sich also eindeutig gegen einen „linken” wie gegen einen „rechtskonservativen” sozialphantastischen Methodenmonismus aus, nach dem es in der Frage des Verhältnisses von Gemeinschaft und einzelnen nur ein hartes Entweder-Oder geben könne, und geht von einer teleologischen Sicht aus: Alle Sozialordnung hat nur dem Menschen zu dienen; er allein kann das Sittengesetz in sich und gegenüber den anderen erfüllen. Das Wie ist sekundär. Die Mittel sind nicht autonom, sondern werden nach ihrer Eignung für die Zielerreichung geprüft, sind also nicht Ziel an sich.

Das gilt auch für die V e r g e S e 11- schaftüng und die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Verflechtungen. Die Verdichtungen der menschlichen Beziehungen, welche Form und Intensität sie auch immer haben, sind so weit gut, als sie der Gewinnung oder der Sicherung des Gemeinwohles dienen. Jedenfalls muß der Gesellschaft und ihren unterschiedlichen verbandlichen Gliederungen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) ein Eigenraum gegenüber dem Staat gesichert sein. Die Gesellschaft darf nicht in die Verapparatung der staatlichen Bürokratie einbezogen werden.

In der Frage der Arbeit beschäftigt sich die Enzyklika zuerst mit dem Problem der Abgeltung der Arbeitsleistung. Die Armut ist, wenn aufgezwungen, ein Übel (simpliciter ma- lum), hindert sie doch den Menschen, das in ihm angelegte Wesen voll zu entfalten. Die Arbeit soll dem Men schen die Möglichkeit einer Selbstdarstellung bieten, jenseits von Armut. Diese muß durch eine angemessene Leistungsabgeltung beseitigt werden. An allen Orten in der Welt. In den Entwicklungsländern ist jedenfalls der Skandal evident, daß Löhne gezahlt werden, die den Dienstnehmer zwingen, mit den Seinen unter unmenschlichen Bedingungen zu leben. Der Heilige Vater verkennt anderseits nicht die Ursache für diesen bedauernswerten Tatbestand: Die unzureichende Kapitalausstattung je eingesetztem Arbeiter und der damit verbundene kümmerliche Arbeitseffekt. Dagegen steht aber — als Provokation — die Tatsache, daß in einigen Entwicklungsländern eine Anzahl Privilegierter einen demonstrativen Luxus pflegt, der in einem „schreienden und beleidigenden Gegensatz” zur relativ geringen Entlohnung der Massen steht. Anderswo wird wieder der Lohn lediglich vorenthalten, um die Kosten eines nationalen Prestiges zu decken oder es wird in einem ungebührlichen Umfang zu Lasten der Arbeiterschaft Kapital akkumuliert, wobei ein unmenschlicher Zwang auf die heutige Generation ausgeübt wird.

Anders in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern. In ihnen geht es nicht so sehr um die Garantie eines Existenzminimums, sondern mehr um die Beseitigung einer Ungerechtigkeit in der Lohnzumessung. Die gezahlten Abgeltungen sind, unter Berücksichtigung der gebotenen Leistungen, entweder zu hoch oder zu niedrig. Lohngerechtigkeit heißt im Bereich der entwickelten L’änder neben Leistungslohn auch Lebens- (Bedarfs-) Lohn. Im einzelnen fordert der Heilige Vater, daß die Lohnbemessung vom tatsächlichen materiellen Beitrag des Lohnempfängers im Rahmen der Produk tion ausgeht (Produktivität) wie auch das kommerzielle Ergebnis (erzielt auf dem Markt) berücksichtigt werden soll. Bei allem darf aber das Genieinwohl nicht übersehen werden, welches etwa bei Reduktion der Zahl der Beschäftigten gefährdet werden kann.

Mit der Abgeltung der Leistungen in Lohnform muß nicht der Einsatz des Dienstnehmers endgültig abgefunden sein. Große Unternehmungen verwenden heute einen erheblichen Teil ihrer Gewinne zur Finanzierung von Investitionen und werden, weil sie groß sind, noch größer. Die Folge sind Eigentumsansammlung bei wenigen, die zudem noch mit anonymen Körperschaften identisch sind, und eine Denaturierung des Eigentums, trotz der täuschenden Etikettierung als „privat”. Der Heilige Vater empfiehlt daher jenen Unternehmungen, welche eine hohe Selbstfinanzierungsquote haben, ihren Arbeitern Anteilspapiere zu übereignen, ein Vorschlag, der offenbar auch auf bundesdeutsche Anregungen zurückgeht.

Das Problem der Abstimmung von Arbeitsentgelt und -ertrag (Reingewinn) verweist auf die Notwendigkeit eines Interessenausgleiches, binnenwirtschaftlich zwischen den Sektoren der Landwirtschaft, der Industrie und der Dienstleistungen, und auf

Weltebene, wo alles getan werden muß, um nicht nur den unlauteren Wettbewerb zwischen den verschiedenen nationalen Wirtschaftssystemen zu beseitigen, sondern die Wirtschaft der weniger fortgeschrittenen Staaten zu fördern, damit ein internationales Ungleichgewicht beseitigt wird (gegen die vermessene Annahme mancher abendländischen Christen, das Postulat des Gemeinwohles beziehe sich nur auf Lebens- und Konsumchancen der Weißen).

Schließlich muß das Phänomen der Arbeit auch auf Betriebsebene gesehen werden. Wenn der Betrieb der Ausbruchsort der sozialen Frage ist, gebietet die Forderung, auch in der Region des Arbeitsvollzuges die Gerechtigkeit zu vollziehen, daß die Arbeitsbedingungen selbst vermenschlicht werden. Eine gerechte Lohnhergabe allein kann die Struktur der Betriebe nicht völlig humanisieren.

Im Sozialmodell der Kirche war bisher die handwerklich-bäuerliche Produktionsweise das Idealgebilde. Der erwerbsorientierte Mittelstand stellte bei Thomas das dem sittlich-religiösen Ideal förderliche Maß von Besitz dar (A. F. Utz, Kommentar zur Spmma, Band 1 ). In „Mater et Magistrat legt sich der Heilige Vater nicht auf eine idealqj. Betriebsgröße fest, fordert jedoch da, wo Handwerksbetriebe und landwirtschaftliche Familienbetriebe und von ihnen errichtete Genossenschaften tätig sind, daß sie sich der Erkenntnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes bedienen, sich aber auch dem Verbraucherverhalten anpassen.

Der Gewerkschaftsbewegung fällt die Aufgabe zu, der Stimme des Arbeiters über den Kreis der einzelnen Betriebe hinaus Gehör zu verschaffen. Der Heilige Vater lobt sowohl die Berufsverbände und Gewerkschaften „christlicher Prägung” wie auch die christlichen Vertreter in jenen Berufsverbänden und Gewerkschaften, die nicht offen als christlich deklariert sind, sich aber „von den natürlichen Grundsätzen der menschlichen Zusammenarbeit leiten lassen.”

Es hieße das Wesen des Eigentums verkennen und außerdem das marxistische Theorem der Fixierung der Sozialreform auf die Eigentumspolitik akzeptieren, wollte man die soziale Frage lediglich durch eine Reparatur der Eigentumsfrage lösen wollen. Das Eigentum ist, als Eigentumsrecht, nicht die Grundlage sozialer Neuordnung, sondern zusammen mit der Regelung des Eigentumsgebrauchsrechtes (beide stellen die Eigentumsordnung dar) ein Mittel sozialreformatorischer Bestrebungen, die nicht allein auf die Eigentumstitel und ihre Verteilung Bedacht zu nehmen haben, sondern ebenso auf die Tatsache, daß dem Eigentumsrecht Macht wie Pflichten eingeboren sind.

Wenn nun die Kirche eine grundsätzliche Haltung in der Eigentumsfrage einnimmt, so ist es die: Maximierung der Zahl der Eigentümer, stets unter Beachtung der Realverfassung der Wirtschaft, die sich beispielsweise seit dem Erscheinen von „Quadragesimo anno” geändert hat. Das Gewicht, welches das Eigentum (an Produktionsmitteln) für die Wohlfahrt und die materielle Sicherheit des Menschen wie für seine soziale Stellung hat, ist heute völlig von jenem in der vorindustriellen Zeit verschieden, ein Grund, die Eigentumsdiskussion wohl weiterzuführen, aber die Akzente zu verlagern.

(Schluß in der nächsten Nummer)

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