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Warnung vor privilegiertem Individualismus

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Freiheit in der Gesellschaft kann es nur in einem „Klima der Spiritualität" geben, die den Menschen in Gott festmacht. Das betonte der französische Kurienkardinal und Präsident des Päpstlichen Rats „Justitia et Pax", Roger Etchegaray, beim diesjährigen vom Wiener „Institut für die Wissenschaften vom Menschen" (IWM) veranstalteten Kolloquium über „Die Ausbreitung der liberalen Gesellschaft".

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Freiheit in der Gesellschaft kann es nur in einem „Klima der Spiritualität" geben, die den Menschen in Gott festmacht. Das betonte der französische Kurienkardinal und Präsident des Päpstlichen Rats „Justitia et Pax", Roger Etchegaray, beim diesjährigen vom Wiener „Institut für die Wissenschaften vom Menschen" (IWM) veranstalteten Kolloquium über „Die Ausbreitung der liberalen Gesellschaft".

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Die Kirche habe dort Vorbehalte gegenüber einer liberalen Gesellschaft, wo diese „nicht mit gleicher Intensität" die Freiheit für alle Menschen und auf allen Ebenen des Menschseins anstrebe, so Etchegaray vor der unlängst in Wien tagenden, wissenschaftlich hochrangigen Expertenrunde. Diesbezügliche Mängel zeigten sich in der religiösen Entfremdung des Menschen ebenso wie im wachsenden Gefälle zwischen Arm und Reich.

Papst Johannes Paul II. weise in der Sozialenzyklika „Centesimus Annus" darauf hin, wenn er - das Ja zur liberalen Gesellschaft vorausgesetzt-vor einer Verabsolutierung der Gesetze des freien Marktes warne. Eine Lösung des Problems sei auch von einer neuerdings in Ökonomie wie Politik wieder erstarkenden Ethik nicht zu erwarten:„Der moralische Imperativ ist das, was den Menschen am meisten mobilisiert und an sich und andere bindet; aber um ans Ziel zu gelangen, muß man bis zu Gott vordringen." Denn „wenn in einer Gesellschaft der Mensch dem Menschen

zugrundegelegt wird, ist das, mehr noch als eine Tautologie, ein Betrug".

Der Kirche, so Etchegaray, müsse es angesichts der Vielschichtigkeit des Begriffes „Liberalismus" immer darum gehen, zu prüfen, ob die jeweils propagierte Freiheit dem Menschen auch tatsächlich ermöglicht, ganz Mensch zu werden. Die „Feuerprobe" werde offenlegen, ob es sich nur um Freiheit aus einem „Widerspruchsgeist" heraus oder um Freiheit in Verantwortung handelt. An der Aufrichtigkeit der Kirche in ihrem Dialog mit der liberalen Gesellschaft sei seit dem Dekret über die Religionsfreiheit vom Dezember 1965 nicht mehr zu zweifeln. Nach rund zwei Jahrhunderten der Schwierigkeiten und Ängste habe die Kirche damit die „Vernunftehe" mit der Freiheit in der Gesellschaft gelöst und eine „Liebesheirat" geschlossen.

Menschenrechte und Toleranz nannte der Münchner Philosoph

Robert Spaemann als Beispiele für jene Grundprinzipien, die in einer liberalen Gesellschaft nicht infrage gestellt werden dürften: „Die offene Gesellschaft kann nur Bestand haben, wenn ihre Offenheit auf Überzeugungen gründet, die ihrerseits nicht zur Disposition stehen", lautete die Kernaussage Spaemanns.

Gefahr der Gleichgültigkeit

Weder der Kampf der freien Staaten gegen den Nationalsozialismus noch der Widerstand der sowjetischen Dissidenten sei „ein Kampf für Hypothesen" gewesen, denn „für Hypothesen stirbt man nicht". Die Bedeutung von religiösen Weltanschauungen komme insofern ins Spiel, als diese fast immer den Kontext indisponab-ler Überzeugungen bildeten, sie sozusagen als „Nebenprodukte" hervorbrächten.

Im Blick auf Euthanasie und Abtreibung warnte Spaemann davor,

diese Überzeugungen Mehrheitsbeschlüssen anheimzustellen: „Es gibt kein Recht noch so großer Mehrheiten, über das Existenzrecht einer Minderheit zu entscheiden." Neben den Menschenrechten sei aber auch die Toleranz immer mehr bedroht. Zunehmend treten an ihre Stelle die Alternative „Verbot" oder „gesetzlich verankerte Gleichberechtigung".

Wenn für alles die Festschreibung eines individuellen Rechtes verlangt werde, bestünde die Gefahr, daß die allen gemeinsamen Werte zerstört werden, meinte Spaemann im Blick auf die jüngsten Forderungen der Homosexuellen in Deutschland nach Gleichstellung im Bereich von Ehe und Lebensgemeinschaft. Auch hinsichtlich gemeinsamer „Formen guten Lebens", etwa des Sonntags, warnte der Philosoph vor einer Privilegierung individualistischer Konzepte. Die Industrie, die den Sonntag abschaffen wolle, weil er zu teuer sei,

gehe bei ihrer Argumentation so vor, daß sie entgangenen Gewinn als Verlust darstelle.

Die Perspektiven der liberalen Gesellschaft nach dem Sturz des Sowjetreiches erörterte Bronislaw Geremek, Historiker an der polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Zwei Probleme, so Geremek, stellten sich in den Vordergrund: Zum einen die Rolle des Staates, von dessen Vorherrschaft zu lösen man sich in den ehemals kommunistischen Ländern bemühe, dessen Schwächung man aber auch noch fürchte. Zum anderen das Engagement der Bürger, das stark gewesen sei im Kampf gegen den Kommunismus, sich aber als schwach erweise beim Aufbau neuer Strukturen.

Die Gefahr in der postkommunistischen Gesellschaft läge nicht in Extremismen, sondern in der Gleichgültigkeit der Bürger gegenüber der Mitbestimmung. Nach Ansicht Gere-meks muß das politische Engagement der Bevölkerung vor allem über eine Dezentralisierung der Macht, eine Stärkung der Kommunalverwaltung gefördert werden.

Angesichts der „Krise der Parteien und politischen Eliten" malte Geremek ein „schwarzes Szenario", das, so der Historiker, jenem der Weimarer Republik ähnle. Einziges Mittel, es zu verhindern, sei der Verzicht auf jegliche Ideologie.

Liberalismus müsse als „reine Ausrichtung" des politischen Handelns verstanden werden. Ausdruck einer „antiliberalen Philosophie" sei es, wenn etwa in Fragen von Leben und Tod wie der der Abtreibung, mit Gesetzen und „institutionalisierter Repression" operiert werde.

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