6860165-1977_33_03.jpg
Digital In Arbeit

Menschenrechte und Nichteinmischung

19451960198020002020

Die Vorbereitungskonferenz von Belgrad ist nach 60 Plenarsitzungen zu Ende gegangen. Im Oktober werden die Diplomaten aus Ost und West erneut in der Hauptstadt Jugoslawiens zusammentreten, um Bilanz zu ziehen, was aus den Beschlüssen von Helsinki im Sommer 1975 verwirklicht worden ist und was noch offen steht. Die Sicherheit voreinander, die wirtschaftliche Zusammenarbeit bleiben auf der Tagesordnung, für den Westen aber vor allem die Frage der Menschenrechte. Letztes Ziel für alle aber ist die Erhaltung und Sicherung des Friedens - ein Zustand, den Israels Kinder nicht kennen und doch so ersehnen.

19451960198020002020

Die Vorbereitungskonferenz von Belgrad ist nach 60 Plenarsitzungen zu Ende gegangen. Im Oktober werden die Diplomaten aus Ost und West erneut in der Hauptstadt Jugoslawiens zusammentreten, um Bilanz zu ziehen, was aus den Beschlüssen von Helsinki im Sommer 1975 verwirklicht worden ist und was noch offen steht. Die Sicherheit voreinander, die wirtschaftliche Zusammenarbeit bleiben auf der Tagesordnung, für den Westen aber vor allem die Frage der Menschenrechte. Letztes Ziel für alle aber ist die Erhaltung und Sicherung des Friedens - ein Zustand, den Israels Kinder nicht kennen und doch so ersehnen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es besteht weltweit Einverständnis darüber, daß es zur Politik der „Entspannung“ keine Alternative gibt, wenn diese Politik die erhofften Ergebnisse auch noch weitgehend vermissen läßt. Die Gefahr globaler Kriege ist zwar vermindert, dies ist jedoch eher durch das Gleichgewicht des Schreckens, als durch politische Vereinbarungen erreicht worden. Die Hauptgefahr für die Entspannung liegt darin, daß über den Inhalt dieses Begriffes zwischen den kommunistischen Ostblockländern und den freiheitlichen Demokratien tiefgreifende Auffassungsunterschiede bestehen.

Der Kommunismus zielt nach wie vor auf die Weltrevolution, und mancher Staatsmann im Osten hält die Zeit für das „letzte Gefecht“ für gekommen. Die Entspannung ist für die kommunistischen Länder eine Zwischenstufe zum weltweiten Sieg des Kommunismus; für die freiheitlichen Demokraten ist sie eine Zwischenstufe zu einem weltweiten Frieden in Freiheit.

Ein Modell für einen solchen Frieden entwirft Papst Johannes XXIII. mit der Enzyklika „pacem in terris“ vom 11. April 1963. Diese Enzyklika geht von der Wahrheit aus, daß ein wahrer Friede nur möglich ist, wenn das ganze Menschengeschlecht durch ein Mindestmaß an gemeinsamen Einsichten und Werten verbunden ist, und stand daher vor der Notwendigkeit,

einen nicht nur für Christen, sondern auch für alle anderen Menschen gültigen Höchstwert vorauszusetzen, der ohne Rückgriff auf die Offenbarung zu formulieren war. Der Papst bestimmte hiezu die menschliche „Person“. Diese wird im ersten Teil der Enzyklika definiert:

„Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und nutzbringend sein soll, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch das Verfügungsrecht über seine Person hat. Er hat eine Natur, die mit Verstand und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Weil sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie in keiner Weise veräußert werden.“

Von diesem Menschenbild ausgehend, zeichnet die Enzyklika „pacem in terris“ das geistige und moralische Gerüst für ein „Weltmodell“ der Entspannung und des Friedens. Die Personalität des Menschen und die aus ihr abgeleiteten „Menschenrechte“ müssen gemäß diesem Modell als kleinster gemeinsamer Nenner einer weltweiten Friedenspolitik auch weltweit akzeptiert werden.

Das Ärgernis besteht nun darin, daß das kommunistische Menschenbild sich von jenem, das die Enzyklika zeichnet und das in der freien Welt ziemlich allgemein anerkannt sein dürfte, grundsätzlich unterscheidet. Nach der kommunistischen Lehre und Praxis ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen, ist nichts anderes als ein Ensemble gesellschaftlicher Beziehungen. Er ist also ein Produkt der Gesellschaft und sein Bewußtsein ist die Widerspiegelung von Klasseninteressen. Er wird durch seine Bedürfnisse determiniert, seine Freiheit ist eine Abstraktion. Eine wie immer zu verstehende Rückbeziehung des Menschen zu einem transzendenten Prinzip wird kategorisch abgelehnt.

Aus diesen unterschiedlichen Menschenbildern ergeben sich verschiedene Weltanschauungen, verschiedene Wertvorstellungen, verschiedene Machtsysteme, die mangels gemein samer Sprache miteinander nicht wirklich kommunizieren können.

Um diese Verschiedenheit und Gegnerschaft, die Entspannung und Frieden unmöglich macht, aufzuheben, müßte der Dialog zwischen den beiden Systemen intensiviert werden.

Nun hat die KSZE im „Korb 3“ die Liberalisierung des Austausches von Informationen und Ideen gefordert Die kommunistischen Länder Osteuropas haben diesen Vertragspunkt zwar akzeptiert, nützen aber das im gleichen Vertrag festgehaltene Verbot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der vertragsschließenden Länder dahin aus, daß sie sich gegen das Eindringen von ihnen unerwünschten Informationen und Ideen hermetisch abschließen.

Diese Abwehrstrategie vermag jedoch nur jene Länder, in denen die kommunistischen Parteien an der Regierungsmacht sind, gegen die geistige Konfrontation mit der übrigen Welt abzuschirmen, die kommunistischen Parteien in den freiheitlichen Demokratien stehen in einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit den Ideen dieser Systeme und werden dadurch zu nicht unwesentlichen Reformen gezwungen.

Die Abschirmung des osteuropäischen Kommunismus gegen freiheitliche und personalistische Ideen muß daher, je länger sie dauert, eine um so tiefere Entfremdung zwischen diesem Kommunismus und dem Eurokommunismus bewirken. Letzterer beunruhigt die Funktionäre im Ostblock zunehmend. Der Eurokommunismus wird als die „Negation“ des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus gewertet, und seine Wirkung auf die Ostblockländer wird als Bedrohung empfunden, weil er den Anschein erweckt, daß auch ein demokratischer Staat den Kommunismus verwirklichen könne.

Es wird also immer klarer, daß die weltweite Ausbreitung des Kommunismus einerseits und die „Reinheit der Lehre“, die eine wesentliche Existenzbedingung für den osteuropäischen kommunistischen Imperialismus darstellt, anderseits, sich nicht mehr zur Deckung bringen lassen. Werden die Sowjets gezwungen sein, um der Integrität ihres eigenen Machtbereichs willen weltrevolutionäre Ziele aufzugeben?

Innerhalb des Weltkommunismus bricht ein Antagonismus auf, dessen Aufhebung nur durch einen grundsätzlichen Wandel der kommunistischen Lehre selbst gelingen kann. Manche Anzeichen deuten auf die Möglichkeit eines solchen Wandels hin. Dieser läge etwa in folgendem: Der dialektische Materialismus als die Lehre von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze hat bisher die „Einheit“ als relativ, und die „Gegensätze“ als absolut gesehen. Wenn nun die „Einheit“ als Ziel und demnach als absolut gewertet und die „Gegensätze“ als relativ verstanden werden, muß sich der dialektische Prozeß in einen Integrationsprozeß verwandeln, der auf Einheit hintendiert, also zielgerichtet oder final zu sehen wäre. Freilich müßte dann ein die Materie transzendierendes Prinzip, etwa ein „unbewegter Beweger“ postuliert werden, und das wäre eine Umstülpung des dialektischen Materialismus, ein Schicksal, das mit unausweichlicher Folgerichtigkeit auf ihn zukommt.

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien der KSZE, einerseits den „Menschenrechten“, anderseits der „Nichteinmischung“, die bei der Nachfolgekonferenz vor sich gehen wird, mag manches Licht auf den Stand der geistigen Krise des Kommunismus werfen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung