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Nicht zustandig

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Antimarxisten und Vülgärmar-Xisten verstehen unter: Marxismus einen Sack voller Märx-Zitate. Dä Karl Marx Atheist Wät, finden sich in seinen Schriften viele atheistische Stellen. Man käntt daher mit Hilfe dieser Zitate „beweisen“, daß der

Atheismus ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus ist. Aber diese Beweisführung geht daneben, weil sie eine Persönlichkeit mit einem wissenschaftlichen System verwechselt: Nicht alles, was Marx geschrieben hat, ist marxistisch.

Definiert man den Marxismus — und diese Definition scheint mir die richtige zu sein — als eine Lehre von der Gesellschaft und ihren Entwicklungsgesetzen, dann erweist sich, daß der Atheismus im marxistischen Denken eine sekundäre, feeitbedingte, nicht zum Wesenskern gehörende Rolle spielt, und daher ein nichtatheistischer Marxismus durchaus möglich ist.

Absolute Wahrheiten kennt der Marxismus nicht. Eine atheistische Philosophie, die absolute Wahrheiten über die Religion „an sieh“ Verkündet, widerspricht dem Wesen des Marxismus und def Von ihm angewendeten dialektischen Untersuchungsmethode. Marxistisch denken, bedeutet jede gesellschaftliche Erscheinung, auch Religion und Kirche, in ihrer Entwicklung zu betrachten, Widersprüche bloßzulegen Und Wandlungen zu erkennen. Da her ist eine marxistische Definition des Begriffes: Religion, die für alle Religionen, unabhängig von den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Sie Sich entfalten, zutrifft, nicht möglich,

Mit Hilfe der marxistischen Untersuchungsmethode kann lediglich dargelegt werden, Welche gesellschaftliche Funktion eine bestimmte Religion unter bestimmten historischen Verhältnissen erfüllt. Jedes Pauschalurteil über „die Religion“ Ist Ausdruck eines unmarxistischen Denkens.

Nehmen wir den oft (meist falseh) zitierten Marxschen Ausspruch; „Die Religion ist das Opium des Volkes.“ Gilt das für alle Religionen, In allen Abschnitten der Menschheitsgeschichte? Natürlich nicht Aber wer könnte leugnen, daß vor allem die christliche Religion jahrhundertelang, im Feudalismus und im Kapitalismus, diese Opiumfunktion tatsächlich ausgeübt hat: Im Namen Gottes und der göttlichen Offenbarung wurden die Ausgebeuteten vom Kampf gegen die Ausbeuter abgelenkt, und auf ein besseres Jenseits vertröstet. Die bestehende Ausbeutergesellschaft galt als gottgewollt, und durfte daher nicht verändert werden.

Für Marxisten ist aber die geschichtliche Erfahrung niemals ein Ersatz für die konkrete Analyse: sie haben daher stets von neuem zu prüfen, Welche Rolle die Religion in einer sich wandelnden Welt spielt und welche Veränderungen im kirchlichen Bereich vor sich gehen.

Dafür ein Beispiel aus unserer jüngsten Vergangenheit: Unter den Widerstandskämpfern, die ihr Leben für die Freiheit Österreichs öpfer-teh, gab es tiefgläubige Christen. Sie haben aus ihrem Glauben dip Krsft geschöpft für den Kampf gegen die Nazibarberei. Ein Marxist, der die Geschichte des österreichischen Widerstandes studiert, wird daher zu der Erkenntnis kommen: Unter den Bedingungen der nazldeutsehen Fremdherrschaft hat die Religion bei patriotischen Österreichern nicht die Rolle des Opiums gespielt, sondern dem Widerstand geeen die Okkupanten starke sittliche Impulse gegeben.

Studiert aber der gleiche Marxist die Geschichte deg spanischen Bürgerkrieges der Jahre 1986 bis iSIib, so wird er, was die Rone der Religion, Insbesondere aber die der Kirche anlangt, m einem völlig anderen Ergebnis kommen.

Auf die Frage: Gibt es einen Gott? kann der Marxist nur eine persönliche Antwort gelben. Der Marxismus ist — bürokratisch formuliert = lediglich für die menschliche Gesellschaft „zuständig“. Metaphysische Fragen können von der Gesellschaftswissenschaft ebensowenig beantwortet werden, wie von der Mathematik oder Medizin.

Es Kann daher, wie ich schon sagte, einen nichtatheistischen Marxismus geben. Aber eine Synthese zwischen Religion und Marxismus ist nicht möglich. Jeder Versuch, religiöser Sozialisten, die marxistische Zielsetzung christlich zü motivieren, die klassenlose Gesellschaft mit der Vision vom Reich Gottes gleichzusetzen, ignoriert den wissenschaftlichen, alles Methaphysische ausschließenden Charakter des Marxismus. Das geistige Instrumentarium, über dä die Marxisten verfügen, eignet sich vorzüglich zur Durchleuchtung sozialökonomischer Beziehungen. Aber mit seiner Hilfe kann weder die Existenz noch die Nichtexiätenz Gottes nachgewiesen oder die Frage beantwortet werden, öb es ein Leben nach dem Tode gibt.

Die politische Durchschlagskraft des Marxismus nimmt in dem Made zU, in dem er sich von allen theologischen Auseinandersetzungen fernhält, und auch auf ein atheistisches Engagement verzichtet. Die intoleranten Atheisten, die es im marxistischen Lager vereinzelt noch gibt, bilden sich ein, sehr radikal, sehr „links“ zu sein. In Wirklichkeit übergehen sie die klassenmäßigen Zusammenhänge:

Ein im Namen des Marxismus geführter Kampf gegen die Religion dient objektiv der kapitalistischen Reaktion, weil er den Zusammenschluß aller arbeitenden Menschen, der Gläubigen ebenso wie der Ungläubigen, verhindert oder zumindest erschwert. Der Aufbau einer söülalistischen Gesellschaft — das erkennen heute auch die modernen, die stalinistische Entartung überwindenden, Kommunisten — ist in Freiheit nur möglich, wenn die der Arbeiterklasse und der Bauernschaft angehörenden Gläubigen den Sozialismus bejahen. Wer diesen Gläubigen die religiöse Freiheit vorenthält, gerät zwangsläufig auf die schiefe Ebene der Diktatur und des Terrorismus.

Nicht zuletzt erfordert aber auch die Erhaltung des Weltfrledens eine enge Zusammenarbeit wischen Gläubigen und Nichtgläubigen, die gemeinsam auf diesem Planeten wohnen und gemeinsam untergehen würden, wenn die Menschheit in eine atomare Katastrophe hineinschlittert.

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