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Marxismus und Atheismus

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icn naite aen Axneismus iur einen wesentlichen und integrierenden Bestandteil des Marxismus. Ich halte nichts von der durch apologetische Rücksichten bestimmten Tendenz, mit der manche Theologen und Marx-Interpreten versuchen, den Atheismus durch einige Kunstgriffe aus dem marxistischen Gebäude zu entfernen und den Marxismus solcherart zu einer bloßen Methode von erstaunlicher Unbestimmtheit, zu einer soziologischen Allerweltsweis-heit, die besagen soll, daß ökonomische Verhältnisse geistige Erscheinungen beeinflussen, zu verflüchtigen. Ein auf diese Art salonfähig gemachter Marxismus ist nicht das von Marx erdachte und gewollte System, er geht am Wesen der Sache vorbei und kann weder Freund noch Feind ernstlich befriedigen.

Der deutsche marxistische Philosoph Karl Korsch hat den Marxismus zutreffend als eine Aufeinanderfolge von Kritiken gedeutet, die in einem inneren Zusammenhang stehen und alle mitsammen den entfremdeten Menschen und seine Welt zum Gegenstand haben. Von der religiösen dringt Marx zur philosophischen Entfremdung vor, um über eine Kritik an den politischen Zuständen seiner Zeit, also der Beleuchtung einer soziologischen Entfremdungssituation, endlich zu dem zu gelangen, was er für die Wurzel allen Übels hielt: nämlich die ökonomische Entfremdung. Die Tatsache, daß Marx mit der Kritik der Religion begann, hat nicht nur biographische und enfwicklungsge-schichtliche Gründe, sondern macht auch sichtbar, daß Marx mit dem begann, was er als intensivste Form der Entfremdung wahrnahm und ernst nahm, daß er also dem religiösen Phänomen volle Beachtung und Aufmerksamkeit schenkte. Daß er die Diagnose des Übels, an dem die Menschen leiden, falsch oder doch unvollständig angesetzt, und dementsprechend eine mangelhafte The rapie empfohlen hat, sollte seiner Leistung in unseren Augen ebensowenig Abbruch tun, wie der idealistische Charakter der Hegeischen Philosophie in den Augen von Marx deren Größe und wegweisendem Charakter Abbruch tat. Man erweist weder dem Marxismus noch uns selbst, ob wir nun wissenschaftliche Forscher, Gestalter der Gesellschaft, gläubige Christen oder alles in einer Person sind, einen guten Dienst, wenn man dem Marxismus das raubt, was seine Tragik und Verfehltheit, aber auch seine Größe und Geschichtsmächtigkeit ausmachte. Marx stellte in der Vorrede zu seiner Dissertation fest, daß Prometheus der vornehmste Märtyrer und Heilige im philosophischen Kalender sei. Ohne den prometheischen Trotz, ohne das bewußte Verhältnis von „Gott und sein Rebell“ (Emil Brunner), hätte der Marxismus nie jene mobilisierende Kraft entfaltet und Massen erweckt und begeistert.

Wäre der Marxismus vom christlichen Standpunkt aus besser oder leichter verdaulich, wenn er sich tatsächlich — wie seine wohlmeinenden Verteidiger behaupten — neutral in der Gottesfrage verhielte und der Atheismus eine unmaßgebliche Privatmeinung des historischen Marx, nicht aber ein Wesenselement seines Systems wäre? Mitnichten. Gerade die Tatsache, daß sich der Marxismus diese Frage gestellt und sie, wenn auch negativ, beantwortet hat, verleiht seinen Anliegen und seinem Kampf die existentielle Dringlichkeit des für absolut Gehaltenen. Würde sich der Marxismus in die Unverbindlichkeit eines höflich ausweichenden Skeptizismus flüchten, fände er Gnade vor den Augen mancher Kritiker, aber um den Preis des Verlustes seiner eigentlichen Bedeutung. Der Satz Ernst Blochs, daß es ohne Atheismus keinen politischen Messianismus gibt, ist nicht von der Hand zu weisen, und selbst wenn man im Lichte der gesammelten historischen Erfahrungen der Überzeugung zuneigt, daß der politische Messianismus vom Übel und auf jeden Fall Häresie, wenn nicht Sakrileg ist, so ändert dies nichts daran, daß man zumindest für die Vergangenheit zugestehen muß, daß sich in dem Streben der marxistischen Bewegungen für viele Menschen die Sehnsucht nach dem Heil materialisiert hat und daß sie in diesem Streben dem wahren Heil näher standen, als wenn sie in Gleichgültigkeit die Skepsis des Pilatus vertreten und ihre Hände in Unschuld gewaschen hätten. Und haben nicht auch die von echt religiösen Motiven beherrschten Staatsund Sozialideen versagt, haben sich die, die vom Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, wußten, und es trotzdem auf Erden verwirklichen wollten, nicht noch tiefer versündigt und sind sie nicht noch gründlicher gescheitert als jene, denen ihr Atheismus in all seiner Dringlichkeit keinen anderen Weg als den in die Fallen und Sackgassen dieser Welt ließ?

Das Schicksal des Marxismus als historisch formender Bewegung scheint mir ohne den Atheismus unverständlich zu sein. Daß der Marxismus, der das Rätsel der Geschichte aufgelöst zu haben glaubte, und alle seine Feinde aus dem Feld schlagen zu können meinte, seinerseits Niederlagen, wenn auch in Form von Siegen, erlitt, spricht nur für die „List der Vernunft“, die im Weltprozeß waltet und die auch die schlauesten Akteure letzten Endes zu Überlisteten, die die Mächtigsten und Siegesgewissesten letzten Endes zu Ohnmächtigen und Gefangenen ihrer eigenen Mechanik macht. Das Schicksal des Marxismus ist für mich eine Illustration des zentralen Satzes der Theologie Karl Barths, daß die Erwählten die Verworfenen sind und die Verworfenen die Erwählten, daß Erwählung und Verwerfung keine absolut trennenden Schicksale sind, sondern quer durch die Systeme und Gruppen, ja quer durch jedes Individuum hindurchgehen und in einem undurchdringlichen Verteilungszusammenhang stehen. Erwählung und Verwerfung sind als partielle und vorläufige Momente in der Weltgeschichte, die als verborgene Heilsgeschichte auch das Weltgericht ist, aufgehoben und relativiert.

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