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Wesentliche Konsequenz

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1. Für die Beantwortung der ersten Frage scheint es mir notwendig, im komplexen Phänomen des Marxismus (das von Marx und Engels ausgehend, durch die historische Konfrontierung mit ganz bestimmten gesellschaftlichen Situationen, zur Realität der kommunistischen Staaten und zur Dynamik der kommunistischen Parteien reicht) die Aufmerksamkeit zu richten auf die authentische Darlegung der marxistischen Doktrin an den Hochschulen in kommunistischen Staaten. Unter Berufung auf einige Schriften von Marx wird dort als eigentliche Inspiration des Marxismus der Humanismus aufgewiesen: die bewegende Kraft der Gesellschaft sei anthropologischer Art, und die Entwicklung und Umwandlung der Gesellschaft in Richtung von Gesundheit, Wohlfahrt und Frieden sei auf dem Wege der menschlichen Wissenschaft zu erreichen. Der Gottesglaube stehe dieser freien, wissenschaftlich manipulierten Entwicklung entgegen, insofern das Absolute im Menschen mit Gott identifiziert, dem Menschen selbst abgesprochen und für eine statische Gesellschaft als Prinzip einer autoritären Ordnung in Anspruch genommen wird. Atheismus als Ablehnung dieses Gottesglaubens ist damit wesentliche Konsequenz und Bestandteil des so vorgetragenen Marxismus. Der Atheismus brauche aber nicht als solcher propagiert zu werden, weil das Bekenntnis zum Menschen und seinen Möglichkeiten von selbst zunehme, es sei denn in solchen Fällen, wo der abzulehnende Gottesglaube sich gesellschaftspolitisch engagiert und sich der notwendigen Entwicklung widersetzt.

Der Christgläubige sieht aber im abgelehnten Gottesglauben nur eine — zwar historisch mächtige, aber immerhin ungültige — Zerrform der evangelischen Verkündigung des Vaters Jesu Christi. Insofern wäre der evangelische Gottesglaube eine innere Möglichkeit des marxistischen Humanismus. Diese Möglichkeit wird aber meines Erachtens nicht nur durch Mißverständnisse frustriert, sondern auch und vielmehr dadurch, daß der Mensch im Marxismus mit seinem wirtschaftlichen Wesen derart identifiziert wird, daß seine innere Transzendenz nicht zur Geltung kommen kann. Anders formuliert: Gott ist „Arbeiter“, oder es gibt ihn nicht.

2. Meine Antwort zur zweiten Frage ist eine Folgerung aus dem soeben Gesagten. Konkret, historisch gesprochen ist der Atheismus als Motiv aus der politischen Durchschlagskraft des geschichtlichen Marxismus als Totalphänomen nicht wegzudenken. Gerade im Protest gegen eine statische Gesellschaft, deren Ordnung im Namen Gottes ein für allemal gelte, hat sich der Mensch aus seiner primitiven sozialökonomischen Situation befreit und darin den Glaubensmut gesucht und gefunden zum Wagnis des kommunistischen Experimentes.

Inwiefern in diesem Glaubensmut die revolutionäre Kraft der Erwartung einer messianischen Heilszeit mehr oder weniger ausdrücklich von größerer Bedeutung war als der atheistische Protest, ist schwer zu entscheiden. Beide sind unlöslich miteinander verknüpft, meines Erachtens sogar im Evangelium.

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