6892038-1979_49_06.jpg
Digital In Arbeit

Marxismus wird weiter lebendige Kraft bleiben

Werbung
Werbung
Werbung

FURCHE: Welches sind Ihrer Meinung nach heute die wichtigsten Strömungen innerhalb des Marxismus? x

BOCHENSKI: Im großen und ganzen kann man drei Hauptgruppen von Marxisten unterscheiden: einmal die Marxisten-Leninisten; dann diejenigen, die ich als Neomarxisten bezeichne, also jene, die auf den jungen Marx zurückgreifen und die nach 1956 in Osteuropa aufgetaucht sind. Schließlich ist da noch eine Gruppe von westlichen Denkern, ich nenne sie Revisionisten, bei denen jeder jeweils etwas anderes von Marx übernimmt beziehungsweise verwirft. Denken Sie an Marcuse, Bloch und so weiter.

Marxisten-Leninisten aber ausschlaggebend ist. Lenins Beiträge zum Marxismus sind der wuchtige Realismus und der Glaube an die Absolutheit der Wahrheit. Von ihm stammt auch der Parteigedanke: das Proletariat sei im Grunde genommen dumm und brauche einen Führer, einen Generalstab. Und endlich findet sich bei ihm eine radikale Relativierung der Moral: Gut und moralisch ist, was der Vernichtung der alten Welt dient.

Die Marxisten-Leninisten übernehmen alle diese fünf Faktoren, während die anderen dieses oder je-überhaupt des Marxismus-Leninismus. Stalin hat einen guten, oberflächlichen Katechismus des Marxismus-Leninismus geschrieben, als origineller Denker ist er jedoch inexistent. Er ist ein bedeutender Staatsmann und Tyrann, aber als Denker … Das ist so eine traurige Sache, und dasselbe kann man von Mao sagen.

FURCHE: Welche Rolle spielt denn die Ideologie überhaupt noch im Kommunismus? Gibt es sie noch, die „gläubigen“ Marxisten?

BOCHENSKI: Ich bin überzeugt,papistische“ Systeme: Wer die Macht hat, lehrt auch! Deshalb ist vorauszusehen, daß die Chinesen mit der Zeit ihre eigene Ideologie entwickeln werden.

Der sogenannte jugoslawische Kommunismus ist etwas ganz anderes. Lassen Sie mich vom osteuropäischen Marxismus sprechen: Freilich ist Jugoslawien das einzige Land, das die Leute nicht in dem Maße vertrieben und eingesperrt hat, wie es in der DDR, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und überall sonst der Fall war, wo die Kommunisten an die Macht gekommen sind. Nur in Jugoslawien konnten sich die osteuropäischen Marxisten organisieren und publizieren.

Diese Gruppe vertritt einen ganz eigenen Marxismus: Mir scheint, die. ganze Hegelsche Metaphysik wird verworfen, der Marxismus wird eher als Methode angesehen. Sie nehmen zwar die Gedanken der Aufklärung, des Sozialismus und des jungen Marx in ihre Ideologie auf, verwerfen aber Lenin und Hegel.

FURCHE: Sie haben fünf Hauptfaktoren genannt, nämlich die Aufklärung, Hegel, den Sozialismus, Marx selbst und Lenin, die wesentlich den Marxismus geprägt haben. Was konkret haben sie zum Marxismus beigetragey?

BOCHENSKI: Unter Aufklärung meine ich vor allem die französische Aufklärung, das Denken jener Männer also, die die französische Revolution vorbereitet haben. Wesentlich bei ihnen sind der Fortschrittsgedanke, der Rationalismus - die Vernunft bestimmt den menschlichen Fortschritt -, eine sehr negative Haltung der Religion gegenüber, der Egalitarismus - das Ideal von der Gleichheit des Menschen - und der Gedanke, daß diese Gleichheit durch rein soziale Umstände gestört worden ist. Dahinter steht schließlich der Glaube an die Selbsterlösung des Menschen. Dieses Denken der Aufklärung scheint'mir bei mehr oder weniger allen Marxisten vorhanden zu sein.

Der zweite Hauptfaktor ist Hegel, den ich für den vielleicht bedeutendsten Denker der Neuzeit halte. Zentral bei Hegel ist der Satz: „Das Wahre ist das Ganze“ - also nur das „Ganze“ existiert letzten Endes in der Welt, alles andere ist nur ein dialektisches Moment. Wir haben es bei Hegel mit einem ontologischen Kollektivismus zu tun.

Zu nennen ist außerdem der radikale Immanentismus: außer der Welt gibt es nichts. (Ich glaube, in diesem Punkt hat Marx Hegel gründlich mißverstanden. Er wollte ihn korrigieren und sagte dann dasselbe, was Hegel schon gesagt hatte.) Diese Welt entwickelt sich nach Hegel aus eigenen immanenten Kräften teleologisch zu einem asymptotischen • Punkt, der Gott ist.

Dabei ist das Denken von Hegel radikal revolutionär. Ich sehe nicht ein, wie man Hegel konservativ deuten könnte. Es ist ein revolutionärer Gedanke, daß der Übergang zu einem Höheren immer durch die Vernichtung des Vorangehenden erfolgen muß.

Dritter Hauptfaktor ist der Sozialismus, also der Glaube, daß eines der Grundübel der Neuzeit die Ausbeutung ist, die deshalb abgeschafft werden muß. Wichtig ist hier auch der Klassengedanke und daß die Verbesserung der Lage nur durch den Kampf der ausgebeuteten Proletarier zustande kommen kann. Schließlich muß noch das Ideal vom Endkommunismus ohne Staat, ohne Gewalt, ohne Polizei genannt werden.

Viertens sind die Elemente zu nennen, die Marx selbst zum Marxismus beigesteuert hat. Bei ihm haben wir zuerst den Ökonomismus: alles wird durch die Entwicklung der Produktionsweise entschieden. Andere Elemente sind der Gedanke der Formation - der Verbindung bestimmter Produktionstypen mit den Klassen - und der Gedanke des Überbaus: alles Geistige hängt letztlich vom Materiellen ab. Und dann ist da noch Marxens orginelle Religionskritik.

Schließlich Lenin als fünfter Hauptfaktor, der zwar von den Neomarxisten verworfen wird, für dienes verwerfen - die Neomarxisten zum Beispiel Hegel, oft auch Lenin und so weiter.

FURCHE: Lassen sich zwischen Lenin und Marx auch entscheidende Unterschiede herauskristallisieren?

BOCHENSKI: Falls die neomarxistische Auslegung stimmt, dann ist das Denken Lenins vollkommen auf der Linie von Engels gegen den jungen Marx gerichtet. Marx hat einmal die These über Feuerbach aufgestellt, daß die erkenntnistheoretische Frage eine scholastische Frage ohne Bedeutung sei. Für Lenin hingegen ist es die absolut zentrale Frage der Philosophie, daß man die Philosophen in Idealisten und Realisten unterscheidet.

Lenin verteidigte seinen extremen Realismus, der sicher nicht der Realismus von Marx ist, denn der ist viel pragmatischer. Lenin ist auch in einem Maße Materialist, wie es Marx niemals gewesen ist. Und ganz neu bei Lenin ist, daß seine Theorie auf sozialem Gebiet eine Theorie der Partei ist. Marxens Begriff der elementaren Bewegung der Arbeiterschaft hat Lenin das Bewußtsein der Intellektuellen gegenübergestellt: die allein wissen alles, also die Partei - er und seine Genossen.

FURCHE: Sie haben bei Ihrem Vortrag erklärt, daß Marx im Gegensatz zu Lenin „Demokrat“ war. Wie ist das mit dem von Marx geprägten Begriff der „Diktatur des Proletariats“ vereinbar?

BOCHENSKI: Die Diktatur des Proletariats sollte Marx zufolge jene Form haben, wie sie die Pariser Kommune um 1870 gehabt hatte. Diese Kommune hatte ein Parlament, in dem es verschiedene Parteien, unter anderem auch eine bürgerliche gab. Falls ich Marx richtig verstanden habe, ist für ihn die Diktatur des Proletariats eine kurze Übergangsphase. Bei Lenin aber wird diese Diktatur des Proletariats zu eb ner Diktatur der Partei - einer echten Dikatur also, einem Regierungssystem, das vielleicht über Generationen hindurch bestehenbleiben muß.

FURCHE: Wie ist Stalin in dem von Ihnen skizzierten marxistischen Gedankengebäude einzuordnen? Und ist der Stalinismus eine legitime Auslegung des Marxismus?

BOCHENSKI: Eine ganz legitime Auslegung des Marxismus sogar,daß die Ideologie noch eine Rolle spielt und daß es noch „gläubige“ Marxisten gibt. Natürlich kann man von den Marxisten ebenso wenig wie von den Christen sagen, daß sie hundertprozentige Gläubige seien. Wenn Sie fragen „Gibt es noch gläubige Christen?“ - ja, natürlich gibt es sie noch!

In diesem Sinne würde ich vor Illusionen warnen: Die großen Bewegungen dieser Art können Jahrhunderte, ja Jahrtausende im Zerfall begriffen sein, auf einmal sind sie wieder da - wie man jetzt auch am Beispiel Islam wieder sieht. Vielleicht gibt es die „gläubigen“ Marxisten weniger in den besetzten Ländern Osteuropas, in Rußland aber ist der Marxismus-Leninismus noch eine lebendige Kraft!

FURCHE: Das Stichwort von der marxistischen Moral ist zuvor schon gefallen. Wie verhält es sich damit?

BOCHENSKI: Zuerst sehe ich da einen Humanismus, einen spezifischen Humanismus: Nicht der Mensch schlechthin, sondern das Bessere irri Menschen soll siegen. Die Behauptung wird aufgestellt, daß der Mensch noch kein Mensch sei. Die einzige Ursache des Nichtmenschseins des Menschen sei das Privateigentum an Produktionsmitteln, weshalb nur durch die Abschaffung dieses Privateigentums, nur durch den Kommunismus der Mensch zum Menschen werden könne.

Das Endziel, nämlich die kommunistische Gesellschaft, kann aber nur das Proletariat erobern. Im Marxismus-Leninismus wird dieses Proletariat wiederum durch die Partei vertreten. Das Imperativ lautet also: „Handle so, daß die Partei so schnell wie möglich siegt!“ Damit haben wir eine vollständige Politisierung der Moral, eine Relativierung auf das Endziel hin.

FURCHE: Man spricht heute von einem chinesischen, jugoslawischen, sowjetischen und einem Eurokommunismus. Inwieweit unterscheiden sich, diese „Kommunismen“ voneinander? x

BOCHENSKI: Der chinesische Kommunismus, auch Maoismus genannt, unterscheidet.sich vom russischen bis jetzt nur darin, daß die Chi-' nesen viel treuer zu Lenin und Stalin halten als die Russen. Die Lehre aber ist tjanz genau dieselbe. Löwenthal sagt ganz richtig: Das sind „caesaro-Was die Eurokommunisten anlangt, ist die Sache sehr kompliziert. Die ganze Angelegenheit ist furchtbar verschwommen. Wohl haben sie einige Worte verändert: Die französische Partei will zum Beispiel nicht mehr von der Diktatur des proletariats sprechen, aber die Partei als solche bleibt. So hat das alles kėine Bedeutung.

FURCHE: Kann sich diese Philosophie der neomarxistischen Intellektuellen in Zukunft vielleicht auf die Politik in den osteuropäischen Ländern auswirken? Vielleicht sogar in einem positiven Sinne …

BOCHENSKI: … nein, nein. Sie haben die Beispiele von Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968. Da ist nichts zu machen. Die kommen sofort mit den Panzern: Solange die Russen das Sagen haben, geht nichts!

FURCHE: Wie würden Sie die Entspannungspolitik im Lichte der marxistischen Ideologie beurteilen?

BOCHENSKI: Als ein Mittel zur Machteroberung. Alles was ein gläubiger Kommunist in der Politik tut, tut er, um die Machtergreifung in der Welt zu erleichtern.

Ich bin kein Politiker, aber es ist möglich, daß die Russen die Chinesen jetzt dermaßen fürchten, daß sie sich mit dem Westen arrangieren möchten. Natürlich ist das Ziel immer dasselbe: der Endsieg des Marxismus-Leninismus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung