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Das Ende des Marxismus?

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SCHRIFTEN ZUR IDEOLOGIE UND POLITIK. Von Georg Lukäcs. Ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz. Luchterhand- Verlag, NeuwiedRhein. 851 Selten, Leinen, DM 68.—, Studienausgabe DM 39.—.

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SCHRIFTEN ZUR IDEOLOGIE UND POLITIK. Von Georg Lukäcs. Ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz. Luchterhand- Verlag, NeuwiedRhein. 851 Selten, Leinen, DM 68.—, Studienausgabe DM 39.—.

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Der Ordinarius für Soziologie an der . Universität Tübingen, Peter Ludz, einer der bedeutendsten Kenner des modernen Marxismus und seiner Soziologie, legt uns mit Zustimmung des Autors eine Sammlung von Texten von Georg Lukäcs, dem greisen marxistischen Philosophen, Ethiker und Kultursoziologen, vor. Die Auswahl ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und für die Entwicklungsgeschichte des Marxismus als Theorie charakteristisch.

Die Texte bieten in erster Linie eine Möglichkeit (dank ihrer chronologischen Anordnung), die Entwicklung des Denkens von Lukäcs ab 1919, seine (innermarxistische) Auseinandersetzung mit dem Marxismus ab der Zeit knapp vor der ersten Machtergreifung des Kommunismus in Ungarn (1919) bis nach dem Ungarnaufstand 1956 zu verfolgen. In den Sequenzen des Werkes von Lukäcs wird das Drama eines weitgehend und bis in die Gegenwart vom Syndikalismus beeinflußten marxistischen Denkers sichtbar, eines Mannes, der sich seinen Jugendtraum von einem Reich ohne Ausbeutung und Privilegien in der Schauweise marxistischer Prophetie trotz allem, was nach 1919 geschah, zu erhalten wußte. Dabei übersah Lukäcs keineswegs die immanente Spannung zwischen den Entwicklungsschritten eines zur Selbstbefreiung aufgerufenen, sich selbst erlösenden Proletariates (Klasse), das sich freilich seine jeweilige Situation von Nichtproletariern deuten lassen muß, um dem Apparat (der Partei), der disziplinierend alle Spontaneität begrenzt und auf Ziele hinlenkt, die utopische zeitliche Dimensionen zu haben scheinen.

Analysiert man die Arbeiten bis auf ihren jeweiligen historischen Hintergrund, zeigen sie uns nicht nur die oft nur taktischen Wandlungen des Autors, sondern auch des Marxismus leninistischer Prägung seit 1919, der nun, mit der Wirklichkeit konfrontiert, seine Denkansätze zu revidieren beginnt. Man erkennt den Kampf einer schriftentreuen Orthodoxie um ihre Position und die Anpassungen der Praxiis, die mit den Worten des Meisters abgestimmt werden muß. So selbständig Lukäcs — auch in der Stunde der persönlichen Gefahren — ist, gegenüber Lenin zeigt er eine bedenkliche Devotion. Das Gleiche kann man hinsichtlich der Terminologie feststellen, so wenn er von der Arbeiterklasse spricht, als ob diese Substanz hätte oder noch gleichen Inhalt besitzen würde wie im 19. Jahrhundert. Was kann man noch mit einem Satz anfangen, wie jenem, daß jeder Proletarier auf Grund seiner Klassenzugehörigkeit orthodoxer Marxist sei (S. 38). Wie kann man diesen Satz interpretieren, wenn Lukäcs der Marxismus vor allem Methode ist?

Stets hat es Lukäcs vermocht, seine Philosophie an der Wirklichkeit zu erproben und sich des Feldexperimentes der Teilnahme am politischen Leben zu bedienen. Die Orientierung auch an der Praxis macht es ihm möglich, Utopie von Irrealität, Humanes vom Inhumanem zu unterscheiden. Daher das Mißfallen der Orthodoxie, die sich mit der Problematik von Demokratie umd Diktatur in einer wesentlich simpleren Weise auseinandersetzt als dies der Ethiker Lukäcs vermag. Für ihn sind freilich Demokratie und Diktatur kein Widerspruch, wenn man sie in ihrer nur-instrumentalen Bedeutung für die Erreichung letzter Ziele sieht. Dazu bedarf es aber eines anderen Begriffes von Freiheit als ihn der Westen hat: Die Freiheit kann dann lediglich als Recht, Befohlenes tun zu dürfen, verstanden werden.

Den moralischen Höhepunkt seines Schaffens erreicht Lukäcs im Jahre 1956, knapp vor dem Aufstand in Ungarn, in einer Situation, in welcher er glaubt, die Summe seiner Erfahrungen mit dem Marxismus als Realität ziehen und einen reifen Marxismus proklamieren zu können. In der Prophetie von Lukäcs sollte die Herrschaft des Marxismus vor allem eine solche der Gegenwart über eine Vergangenheit sein. Dabei bedachte er nicht, daß auch der Marxismus bereits eine Vergangenheit hat, dies aber dadurch zu überdecken sucht, daß er die Herrschaft einer utopisch modellierten Zukunft über die Gegenwart aufgerichtet hat, aber keiner Utopie, die von der Welt „belehrt“ wurde (ein Wort von Bloch).

Das Lesen des Buches ist (heute) eine schwierige Angelegenheit, geht es doch auch um Auseinandersetzungen, deren Bedeutung nur noch lehr- geschichtlich zu verstehen ist. Die „Kirchengeschichte“ des Marxismus ist ein unentwirrbarer Komplex von Auseinandersetzungen geworden, Beweis dafür, daß es doch an Grundsätzen fehlt und überdies nach der zweiten Geburt des Marxismus durch die Praxis diese den Marxismus mit ihren regionalen und zeiteingebundenen Problemen überdeckt. Heute, da der Kommunismus als Hedlslehre liquidiert und (im Sinne von Lenin) als Imperialismus in die Endphase seiner geistigen Entwicklung eingetreten ist, gewinnt der Enthusiasmus der frühen Aufsätze von Lukäcs geradezu tragischen Charakter. Vor allem angesichts der Identifikation von Idee und Gewalt im modernen Marxismus und des unleugbaren Sachverhaltes, daß Objekt der Gewalt aus der Natur der Sache heraus weithin nicht mehr die Bourgeoisie sein kann, sondern die Arbeiterschaft. Dem Leser wird viel abverlangt. Man muß dem Heraus geber dafür danken, daß er nicht nur eine von profunder Kenntnis des Werkes von Lukäcs und des Marxismus zeugende Einleitung geschrieben hat, sondern durch Anmerkung viele, heute sonst unverständliche Hinweise von Lukäcs erläutert.

Von den 30 Texten des Buches sind einige jenseits der zeitgeschichtlichen Determinanten von einem besonderen Gewicht für die Ideengeschichte des Marxismus-Leninismus: „Was ist orthodoxer Marxismus?“, „Der Funktionswandel des historischen Materialismus“, eine Abhandlung über Moses Hess, „Mein Weg zu Marx“, „Schicksalswende“ (mit einer Analyse der inneren Logik des NS), eine Darstellung der philosophischen Entwicklung des jungen Marx, eine ergreifende Radiobotschaft an die Jugend (1956) und ein Nachtrag zu „Mein Weg zu Marx“.

Ein umfangreicher Anhang enthält neben biographischen Daten einen Aufsatz von Sinowjew gegen die „Ultralinken“, einen offenen Brief der kommunistischen Internationale an die Mitglieder der ungarischen KP (1928), die sich in einer Krise befand, und eine „Abrechnung“ der „Woprossy filosofli“ mit dem „Revisionisten“ Lukäcs (aus 1958).

Umfangreiche Verzeichnisse (Bibliographie, Literaturverzeichnis, Register) beschließen das Buch, dessen Bedeutung für die Theorie des Marxismus gerade angesichts seiner Mutation in der Gegenwart nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

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