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Aufgeschoben und aufgehoben

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Ist das wirklich erat wet Jahre her — das Treffen der Paulus-Gesellschaft im böhmischen Marienbad —, der erste freie Dialog, den Menschen der westlichen Welt (keinesfalls nur konfessionsgebundene Christen) mit Menschen des östlichen Gesellschaftssystems (keinesfalls nur dialektische Materialisten) führten? Erich Kellner, der Herausgeber des Dokumentar-bandes dieser Tagung, ist kein Feuilletonist, will wohl auch keiner sein. Sonst hätte es ihn verlocken müssen, etwas von der Atmosphäre wider-zugeben, in der sich diese Bewegung vollzog.

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Ist das wirklich erat wet Jahre her — das Treffen der Paulus-Gesellschaft im böhmischen Marienbad —, der erste freie Dialog, den Menschen der westlichen Welt (keinesfalls nur konfessionsgebundene Christen) mit Menschen des östlichen Gesellschaftssystems (keinesfalls nur dialektische Materialisten) führten? Erich Kellner, der Herausgeber des Dokumentar-bandes dieser Tagung, ist kein Feuilletonist, will wohl auch keiner sein. Sonst hätte es ihn verlocken müssen, etwas von der Atmosphäre wider-zugeben, in der sich diese Bewegung vollzog.

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Von der dichtgedrängten Fülle der Haupt- und Nebenreferate, die eine noch stärkere Fülle von Diskussionsbeiträgen hervorrief, Streitgesprächen, gestammelten persönlichen Bekenntnissen, Apercus, Nebengefechten — zu schweigen von all dem, was damals an den Abenden noch an privaten Gesprächen stattfand, zu schweigen von der hochdramatischen Pressekonferenz im ersten Schlagschatten der sich abzeichnenden R#formerpolitik in Prag. In die hier abgedruckten und dankenswerterweise weder erheblich redigierten noch gar retuschierten Referattexte konnte von diesen Stimmungen und psychologischen Valeurs nichts eingehen. Die Rosen, die der Schweizer Jesuitempater Kaufmann am Ende der Marienbader Gespräche der kommunistischen Professorin Erika Kadlecovä, die den Kongreß in vornehmer Objektivität geleitet hatte, ahne je einen Zweifel an ihrer strikten atheistisch marxistischen Position aufkommen zu lassen, überreichte, konnten nicht einmal als getrocknete Herbariumsobjekte diesem Buch eingepreßt werden. Ab Herbarluamsobjekte wird man naturgemäß erinnert, wenn man jetzt die Referate nachliest und sich vergegenwärtigt, In welchem Tonfall sie damals gesprochen, in welcher Stimmung sie aufgenommen wundem. ,

Rein äußerlich hält das Buch noch an der. Zweiteilung der Fronten fest, die man irgendwann einmal die von Christentum und Marxismus nannte. Daß spätestens mit dem dramatischen Auftreten des Münchner Psychiaters Paul Matussek eine „Dritte Kraft“, die des modernen Potivismus, erkennhar wurde, wird nur dem verständlich, der Matusseks — damals im Streitgespräch dramatisch ergänztes — Referat „Kreativität und Ideologie“ nachliest. Aber auch die anderen Texte lassen kaum orthodoxe Positionen des „Pro und Kontra“ erkennen. Keine scholastische Apologetik wird gegen die atheistischen Dogmen ins Feld geführt. Und doch ist nirgends etwas von verbindlicher Verwaschenheit bemerkbar. Gerade die ruhige, von der begreiflichen Spannung und Abspannung einer miterlebten Riesentagung freie Lektüre bestätigt das dem Rezensenten. Diese Phalanx junger evangelischer und katholischer Theologen — unter ihnen die vatikanischen Patres Miano und Girardi, die Professoren Metz und Möllmann — sucht in der Begegnung mit dem marxistischen Atheismus nicht den kümmerlichen „gemeinsamen Nenner“, nicht das statistisch begriffene „Wahre, Gute und Schöne“, sondern das Humanuni als Dynamis, als Auftrag zur Weltverwirklichung, als göttlichen Entwurf. Die damals formulierte Diskussionsbemerkung (von Metz), daß angesichts des modernen Positivismus das Streitgespräch zwischen Christen, und Atheisten zum Disput zweier alter Tanten zu werden drohe, ist angesichts der vorliegenden Texte kaum berechtigt. Schade nur, das der referatähnliche Diskussionsbeitrag des Prager Professors Trtik, der einen Beitrag der modern interpretierten Theologie des Jan Hus gab, hier nicht festgehalten werden konnte. An dessen Thesen wird das historisch Gemeinsame besonders klar sichtbar, das zwischen der jungen christlichen Theologie und den gleichfalls jungen Prager und Brünner Marxisten vorhanden ist, die einander hier in Marienbad begegneten. Die historische Dimension dieses bis ins Mittelalter zurückreichenden gemeinsamen Stroms kommt im Referat des Kirchenhistorikers Robert Kalivoda

am kompatensten zur Geltung, während die Vorträge von Milan Prucha und Milan Machovec die ethischen und existentiellen Komponenten herausarbeiten.

Gerade wenn man das alles heute nachliest, dann erscheinen die seit dem August 1968 immer wiederkehrenden Behauptungen absurd, daß es diesen marxistischen Reformern um eine Liberalisierung oder Aufweichung des Marxismus zu tun gewesen sein sollte. Sie suchten das Gespräch mit den Exponenten christlicher Theologie, nicht um sich anzupassen oder anzubiedern, sondern im Gefühl eigener Stärke: als Herausforderung eines weltanschaulichen Widerparts, den sie ernster nahmen und nehmen, als er dies heute manchmal selbst tut. Wenn man diese Machvec, Prucha, Cvekl, Kalivoda als „Ketzer“ des Marxismus ansehen will, dann höchstens in jenem Sinn, den der heilige Klemens Maria Hoffoauer den Deutschen zu-

schrieb, als er sagte, sie hätten die Reformation gemacht, weil sie „besonders fromm“ sein wollten. Diese Tschechen wollten und wollen den Marxismus In seiner humanistischen Dynamis „entbinden“, ihn von Verkrustungen und Erstarrungen befreien, um seine Postulate zu verwirklichen.

Man ist versucht, von einer Marienbader Elegie zu sprechen, wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, daß zur gleichen Zeit, da man in Marienbad disputierte, im nahen Karlsbad von den Politikern die „Beschlüsse“ gefaßt wurden, die die kornmunisti-scfaen Parteien zur späteren solidarischen „Intervention“ verpflichteten. Und doch erscheint das, was in diesem Band nüchtern dokumentiert und festgehalten ist, nicht als überholtes Gerede. Es ist von der Tagesordnung nicht für immer abgesetzt. Und „aufgehoben“ erscheint das meiste, was hier zu lesen ist, nur im positiven Sinn der Hegeischen Sprechweise: aufbewahrt.

Friedrich Weigend-Abendroth

SCHÖPFERTUM UND FREIHEIT IN EINER HUMANEN GESELLSCHAFT. Gespräche der Paulus-Gesellschaft. Marienbader Protokolle. Herausgegeben von Erich Kellner. Europa-Verlag, Wien-FranJcfurt-Zürieh. 375 Seiten, S 180.—.

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