6842779-1976_01_06.jpg
Digital In Arbeit

Totenamt für einen Lebenden?

Werbung
Werbung
Werbung

„H. Christof Günzl hält in der FURCHE (49/75) das Totenamt für den Marxismus. „Seine Mission ist abgelaufen. Er hat keine Zukunft mehr.“ Das wurde ebenso kategorisch gesagt, wie man Nägel in einen Sarg einschlägt.

Nicht zum erstenmal — und nacht nur in Publikationen — werden Versuche unternommen, den Marxismus zu begraben. Er lebt aber weiter! Als Mitte des vorigen Jahrhunderts das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels erschien, konnte man die Kommunisten an den Fingern abzählen. Heute zählt das Heer der Kommunisten mehr als 50 Millionen in der ganzen Welt. Der Sozialismus gehört heute nicht mehr nur in den Bereich der wissenschaftlichen Theorie. Er stellt ein Weltsystem dar, das auf drei Kontinenten Wurzeln geschlagen hat. Viele junge Nationalstaaten Asiens, Afrikas und Lateinameri-kas schlagen den Weg einer nichtkapitalistischen Entwicklung ein. Es zieht sie aus irgendeinem Grunde nicht zu der „siegreichen“ bürgerlichen, sondern zu der „untergehenden“ sozialistischen Ideologie. In Italien und Frankreich erzielen die Linkskräfte immer größere Erfolge. In der BRD beeilt man sich, ihnen durch das Gesetz über die Radikalen im voraus den Maulkorb anzulegen. Die Revolution in Portugal löste in den konservativen Kreisen des Westens Verwirrung aus. Das

Günzl will aber diese Tatsachen, deren Aufzählung sich leicht fortsetzen läßt, ignorieren. Weshalb tut er das? Weil sie sich in seine Konzeption von einem „Zusammenbruch des Kommunismus“ nicht einfügen lassen.

Es drängt sich nun die Frage auf, warum der Autor des Beitrages ausgerechnet jetzt dem Marxismus jede Zukunft aberkennt. Diese Frage wird meiner Meinung nach durchaus kompetent von James Reston in der „New York Times“ vom 10. Dezember 1975 beantwortet: „Die Inflation und Arbeitslosigkeit veranlassen die Menschen (im Westen), zu fragen, ob die Demokratie und das kapitalistische System überleben werden.“

In einer derartigen Situation wäre es angemessener, anderen den Untergang zu prophezeien.

Wenn wir sagen, daß die Kon-Irinente nicht nach rechts, sondern nach links rücken, ist Günzl wohl nicht dazu geneigt, dieser Meinung der „interessierten Seite“ Glauben zu schenken. Deshalb werden wir uns auf eine andere, für ihn maßgeblichere Persönlichkeit berufen. Im Mai vergangenen Jahres sagte Henry Kissinger in seinem Interview für „National Broadcasting“: „Wenn man sich anschaut, was in der ganzen Welt vor sich geht, wird man meiner Meinung nach feststellen, daß sich in vielen Ländern die Positionen der marxistischen Ideologien und die Weltanschauungen festigen, die unseren Idealen zuwiderlaufen.“

Günzl lehnt die „ideologische Kriegsführung“ ab und sehnt statt dessen eine Integration der Ideen herbei. „Die Siegeschancen sind ... auf unserer Seite“, behauptet er. Lohnt es sich aber, sich mit einer schwachen Ideologie zu vereinigen?

Günzl erinnert mich sehr an den Trainer, der sich beeilt, das Handtuch auf den Boxringboden zu werfen, um seinen Zögling vor etwas Schlechterem zu bewahren ...“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung