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100 Jahre — „Das Kapital”

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Wenn ein Schriftsteller mit seinen Wortprägungen in den Sprachschatz des Alltags eingeht, zählen wir ihn zu den Klassikern. Shakespeare, Schüler und Goethe,? ebenso Adam Smith, Darwin und Einstein sind in diesem Sinne Klassiker geworden. Zweifellos steht auch Marx in diesem Rang. Seine Formulierungen: Ausbeutung, Mehrwert, Akkumulation, Verelendung, Klassenkampf, materialistische Geschichtsauffassung, Unterbau-Uberbau und viele andere sind stehende Wendungen im politischen und wirtschaftlichen Sprachschatz der Gegenwart.

Klassiker werden allerdings öfter zitiert als gelesen. Bei Marx ist das nicht verwunderlich. Wer kann sich heute noch an die hegelianische Sprache und Satzbildung gewöhnen, wie „Verwohlfeilerung” oder „Dies- selbigkeit der Revenuen”? Das geht ja schon über Heidegger. Als der Eisenacher Kongreß 1869 das Programm der ersten Internationale übernommen hatte, wurde daher das Bedürfnis wach, die Lehren von Marx zu popularisieren, das heißt, zu einfachen, jedem verständlichen Formeln zu kondensieren. Dabei ging aber nicht nur ein sehr wesentlicher Teil des Marxschen Gedankengutes verloren, es kam vielmehr ziu Fehlinterpretationen und Verallgemeinerungen, die die spätere Marx-Kritik zerpflückte, als ob sie Marxens eigenes Gedankengut wären, so zum Beispiel der bekannte Satz: Das Sein bestimmt das Denken, nicht das Denken das Sein — als ob Marx der Persönlichkeit überhaupt keine Rolle im Geschichtslauf zugestanden hätte!

Das Erstaunlichste aber ist die Tatsache, daß ein so schwierig zu lesendes Buch wie „Das Kapital” in den 100 Jahren seit seinem Erscheinen Geschichte gemacht hat.i Es ist zum Katalysator zahlreicher Revolutionen von größter Tragweite geworden. Es hat nicht nur im deutschsprachigen Raum den Aufstieg der Arbeiterklasse eingeledtet, es war der Leitfaden der Oktoberrevolution in Rußland vor genau 50 Jahren, und es ist heute die „Bibel” vieler nationaler Unabhängigkeitsbewegungen in der farbigen Welt von China bis Lateinamerika. Seit 1945 wurde sogar in den USA Marx wiederentdeckt — es seien nur die Autoren Paul M. Sweezy und Paul A. Baran genannt.

Die bleibende, wissenschaftliche Leistung Marxens ist seine Methode der Sozialforschung: die Entdeckung, daß jedem Sozialsystem eine innere Dynamik innewohnt, die nach anfänglichen Leistungen zur Selbstzersetzung des Systems führt. Damit verbunden ist die materialistische Geschichtsauffassung und die Ideologiekritik, die Aufdeckung der Interessenstandpunkte, die im Kleide wissenschaftlicher Erkenntnisse auftreten. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Wirtschaftstheorie die Dynamik entdeckt. Die Konjunkturlehre, die Wachstumstheorien, die Stagnationsprognosen knüpfen unausgesprochen an Marxsche Gedankengänge an. Die Wissenssoziologien Max Schelers und Karl Mannheims haben die Ideologiekritik von Marx fortgeführt. Ein weiterer, wichtiger Gedanke war die Analyse der Wirtschaft in makroökonomischen Größen, während die herrschende Ökonomie in der Verhaltensforschung, also im Subjektiven, steckengeblieben war. Die Makroökonomie wurde erst durch Keynes wiederentdeckt.

Auch Marx hatte für alle seine Leistungen Vorgänger, wie die meisten, neuen Theorien ihre Ansätze bei früheren Denkern haben. Sein Verdienst ist es, diese vergessenen Ansätze zu einem geschlossenen System ausgebaut zu haben, und zwar zu einer Zeit, die für diese Denkart keinen Sinn hatte. Während die herrschende Lehre von der Gleichgewichtsidee beherrscht war, entwickelte Marx die sozialen Bewegungsgesetze, inmitten einer Zeit der absoluten Systemgläubigkeit wies Marx auf die innere Unstabilität aller Systeme hin, der Überheblichkeit des konservativen1 Denkens setzte Marx den Satz von der Schichtgebundenheit allen Denkens entgegen.

Gegenüber diesen Leistungen verblassen die Unstimmigkeiten in manchen Einzelfragen, die sich bei Marx ebenso finden wie bei Adam Smith, John M. Keynes, Max Weber oder anderen Bahnbrechern der Sozialwissenschaften. Die Arbeitswerttheorie wird in dieser Form kaum Bestand haben, in der Konzentrationstheorie behielt Marx recht, allerdings in einem anderen Sinne, als er dachte — konnte er doch die Entwicklung der modernen Technik und die Bevölkerungsexplosion nicht vorausahnen. Seine Zusammenbruchstheorie, oft fehlgedeutet, bedarf ebenfalls einer Korrektur, die nach der einen Richtung Bernstein, nach der anderen Lenin vorgenommen haben. In der Lohntheorie, in der Unterkonsumationstheorie, in der Geldtheorde bedarf Marxens Lehre eines Neu- und Umdenkens. Das schmälert aber in keiner Weise die gewaltige Leistung des Gesamtkonzepts. Ebensowenig würden wir der Leistung des Aristoteles gerecht, wenn wir sie nur nach seiner Kosmologie beurteilten.

Marx übertrug die dynamische Betrachtungsweise von den Sozialwissenschaften auf die Erkenntnislehre. Die Dialektik wird damit zu einem grundlegenden Denkprinzip und gleichzeitig zu einem Prinzip des Naturablaufes überhaupt. Dem damals herrschenden Neukantianismus stellte er den Realismus, die Identität von Sein und Erkennen entgegen. Das gibt seiner Lehre den Charakter einer umfassenden, geschlossenen Weltanschauung, und ihren Anhängern das Gefühl, den Schlüssel zur Lösung aller Fragen in der Hand zu haben. Gerade das aber war eine Belastung für die Verbreitung der Ökonomiekritik, die manche übernommen hätten, wenn sie sie nicht auch weltanschaulich verpflichtet hätte.

Die deutsche Arbeiterbewegung übernahm den Marxismus in der revisionistischen Variante, daß es auch einen gewaltlosen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus über die Sozialpolitik und die demokratische Staatsform gebe. Der angelsächsische Trade-Unionismus ist zu pragmatisch, um einer geschlossenen Theorie zu bedürfen, in Frankreich überwiegen bis heute syndikalistische Bestrebungen, die Marx verurteilte. Teile der Kapitalismuskritik sind in die katholische Soziallehre eingedrungen — es seien nur Hohoff und neuerdings Kleinhappel erwähnt. In Österreich wurde der Austro-Marxismus entwickelt, es gab aber auch einen Versuch, die Dialektik durch die Vernunftskritik Kants oder Machs zu ersetzen (Max Adler), wogegen sich Lenin mit aller Schärfe wand.e. Lenin korrigierte Marx dahin, daß der sozialistische Umsturz nicht auf die Weltrevolution warten müsse, sondern auch in einem einzelnen Staat, sogar in einem noch nicht industrialisierten, erfolgreich sein kann. Das Phänomen des „Imperialismus” behandelt Marx nur einmal, im posthumen, von Engels bearbeiteten dritten Band des Kapitals. Lenin nannte ihn das „letzte Studium des Kapitalismus”. Diese Imperialismustheorie ist heute eine der treibenden Ideen der Umwälzungen in der „Dritten Welt”.

Auch heute arbeiten zahlreiche Autoren an der Weiterbildung der Revolutionstheorie (Garaudy), der Wertlehre (Lange) und anderer Probleme. Die gesamte Welt steht heute an der Schwelle zu neuen Wirtsehafts- und Gesellschaftsformen, Klassenschichtungen und internationalen Kräftebeziehungen. Die Probleme von gestern werden durch andere Aufgaben überlagert. Die neue Technik, die Zusammenballungen von Macht, die verschärften Interessengegensätze machen den Staat zwangsläufig zum Ordnungsfaktor und Schlichter. Die Wirtschaftskämpfe werden damit zu politischen Kämpfen um die Macht im Staate. Das rasche Bevölkerungswachstum vor allem in der farbigen Welt stellt uns vor die Aufgabe, innerhalb der nächsten Jahrzehnte für eine doppelte Anzahl von Menschen Nahrungsspielraum und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Spannungen zwischen hochentwickelten und unterentwickelten Ländern verschärfen sich, die Austauschrelationen verschlechtern sich trotz der Entwicklungshilfe und vergrößern das Elend der Habenichtse.

Es sind dies im weltweiten Rahmen dieselben Spannungen, die Marx vor 100 Jahren innerhalb der sich industrialisierenden Gesellschaft Englands und Deutschlands aufgezeigt hat. Um diese Probleme in ihrer heutigen Form zu erkennen und zu lösen, bedürfte es eines ebenso universellen Denkers und Politikers unserer Zeit, wie es Marx für seine Zeit war.

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