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Das Erbe heißt Intoleranz

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Politischer Radikalismus, der in der ekstatischen Steigerung auch das Leben unbeteiligter Unschuldiger nicht schont, vcr-vyirklicht sich in unseren Tagen fast ausschließlich nur mit linkem Vorzeichen. Marxismus und Anarchismus sind ein Bündnis eingegangen, das japanische Links-Kamikaze, deutsche Rote-Armee-Fraktionen und südamerikanische Tupamaros vereint. „Gnadenlose Zerstörung' — das war die Losung des Marxisten und späteren Anarchisten Bakunin — und auf ihn berufen sich auch heute noch die Mörder von Tel Aviv und Frankfurt. Liest man heute aber Bakunin und Marx, bleibt im Lichte der Historie nicht viel übrig von der These Blochs, daß der unverfälschte Marx „sich tätig begreifende Menschlichkeit“ coi

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Politischer Radikalismus, der in der ekstatischen Steigerung auch das Leben unbeteiligter Unschuldiger nicht schont, vcr-vyirklicht sich in unseren Tagen fast ausschließlich nur mit linkem Vorzeichen. Marxismus und Anarchismus sind ein Bündnis eingegangen, das japanische Links-Kamikaze, deutsche Rote-Armee-Fraktionen und südamerikanische Tupamaros vereint. „Gnadenlose Zerstörung' — das war die Losung des Marxisten und späteren Anarchisten Bakunin — und auf ihn berufen sich auch heute noch die Mörder von Tel Aviv und Frankfurt. Liest man heute aber Bakunin und Marx, bleibt im Lichte der Historie nicht viel übrig von der These Blochs, daß der unverfälschte Marx „sich tätig begreifende Menschlichkeit“ coi

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Letzteres will uns auch Ernst Fischer in einer marxistischen Hauspostille „Was Marx wirklich sagte“ aus den Schriften des Meisters selbst beweisen, indem er aus ihnen sehr geschickt die humanen Rosinen klaubt. Ein neuer Marx tritt uns entgegen: gütig, friedfertig, rauschebärtiger Gott-Vater-Ersatz für Atheisten, von reiner Menschlichkeit überquellend; nur Mißverständnisse und böse Absicht haben ihn verfälscht, ihm grausame Züge ins heiter-olympische Antlitz gemalt. Zugleich aber weist ihn Bloch auch als den unfehlbaren Propheten aus, der den einzig gangbaren und zwangsläufig zu begehenden Pfad in die Zukunft weist.

Marxismus ist demnach Verkündigung von Sanftmut und Menschlichkeit, vollendetes Christentum und erfüllter Humanismus. Der „Fanzer-kommundsmus“ (Ernst Fischer) ist nur die Entartung einer Lehre, der in Wahrheit Härte und Unduldsamkeit ebenso fremd sind wie ihre Schöpfer.

Gerade durch diese Deutung verschärft sich der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Frohbotschaft der Lehre Marxens und der Härte marxistischer Wirklichkeit, zwischen Ideal- und Realmarxismus. Ist der Realmarxis-mus, den wir bisher kennenlernten, tatsächlich nur, wie man uns tröstend und vertröstend beteuert, Übergang zu einem durchaus möglichen Idealmarxismus, ist er bloß dessen Verfälschung, oder ist er selbst schon der wahre und ganze Marxismus?

Fragen wir zunächst nach dem Menschen, der hinter dem Werke steht: sahen seine sozialistischen Zeitgenossen (das Urteil des Klassenfeindes können wir als unmaßgeblich übergehen) in Marx ebenfalls den selbstlosen Menschenfreund, der lauter und uneigennützig der Sache des Proletariates dient, dessen Lehre den Weg ins Reich der Freiheit, Gleichheit und des Glückes für die größte Zahl weist, kurzum, sahen sie in ihm Blochs „unverfälschten“ und Fischers „wirklichen“ Marx?

Zunächst fällt auf, daß er mit seinen Gesinnungsgenossen in dauerndem Streit lag; wer sich ihm nicht, wie Engels, bedingungslos unterwarf, mit dem überwarf er sich. Wo immer er auf Persönlichkeiten eigener Prägung stieß, mochten sie nun Lassalle, Proudhon, Mazzini, Bakunin oder sonstwie heißen, schlug eine etwaige anfängliche Gemeinsamkeit rasch in erbitterte Feindschaft um.

Ein friedliches Austragen von Meinungsverschiedenheiten ließ Marx nicht gelten. Wer immer es wagte, anderer Meinung zu sein, von der Parteilinie, wie sie der Meister vorschrieb, abzuweichen, wurde beschimpft und verdächtigt, zum Verräter und Klassenfeind, zum Kleinbürger und Handlanger des Kapitalismus gestempelt.

Einer, der Marx nun gut gekannt und zeit seines Lebens, trotz allen Zerwürfnissen, aufrichtig bewundert hat, ist der russische Anarchist Bakunin. „Marx und ich sind alte Bekannte“, schreibt er in seinen 1871/72 verfaßten „Rapports person-nels avec Marx“. „Ich traf ihn zum erstenmal 1844 in Paris... Wir waren ziemlich befreundet.“

Diese Freundschaft zerbrach sehr bald an der Unduldsamkeit Marxens, aber trotz allen Anfeindungen war Bakunin bemüht, dem anderen gerecht zu werden, seine Verdienste rückhaltslos anzuerkennen, wie in seinen „Rapports“ deutlich zum Ausdruck kommt:

„Marx ist ein Mann von großer Intelligenz und dazu ein Gelehrter im weitesten und tiefsten Sinne dieses Wortes ... Marx ist ferner der Sache des Proletariates leidenschaftlich ergeben.“

Er verteidigt Marx auch gegen Mazzinis Vorwurf, er sei „nur von Haß, nicht von Liebe beseelt“:

„ ... Tiefe, ernste Menschenliebe ist immer von Haß begleitet... Man kann die Unterdrückten nicht lieben, ohne die Unterdrücker zu verabscheuen, daher kann man das Proletariat nicht lieben, ohne die Bourgeoisie zu hassen.“

Bakunin nimmt damit schon die Marx-Verteidigung Blochs vorweg; und er würdigt auch uneingeschränkt die Leistungen des deutschen Revolutionärs:

„Zu diesen großen und unbestreitbaren Verdiensten kommt dieses dazu, daß Marx der Initiator und Hauptinspirateur der Gründung der Internationale war.“

Rufmord an Bakunin

Neben diesen Verdiensten sieht Bakunin aber auch ganz entschiedene Fehler:

„Zuerst hat er den Fehler aller Berufsgelehrten, er ist doktrinär. Er glaubt absolut an seine Theorien und von der Höhe dieser Theorien herab verachtet er die Welt. Als gelehrter und kluger Mann hat er natürlich seine Partei, einen Kern blind ergebener Freunde, die nur auf ihn schwören, nur durch ihn denken, nur seinen Willen haben, kurz, die ihn vergöttern und anbeten und ihn durch diese Anbetung korrumpieren, was schon ziemlich weit gediehen ist...

Zu dieser Selbstanbetung... tritt als natürliche Folge der Haß dazu, den Marx nicht allein gegen die Bourgeois hegt, sondern gegen alle, selbst gegen revolutionäre Sozialisten, die ihm zu widersprechen und einer von seinen Theorien verschiedenen Ideenrichtung zu folgen wagen ... Marx ist äußerst eitel, eitel bis zum Schmutz und zur Tollheit. Wer das Unglück hatte, ihn auf noch so unschuldige Weise in dieser krankhaften, stets empfindlichen und stets gereizten Eitelkeit zu verletzen, dessen unversöhnlicher Feind wird er, und dann hält er alle Mittel für erlaubt und benützt tatsächlich die schmählichsten, unerlaubtesten Mittel, um einen solchen in der öffentlichen Meinung zu verderben. Er lügt, erfindet und bemüht sich, die schmutzigsten Verleumdungen zu verbreiten.“

Bakunin hat es selbst zu spüren bekommen, was es heißt, Marx zum Feinde zu haben, insbesondere, als er während der Revolution von 1848 andere Wege als dieser ging.

„Um mich für die Kühnheit zu bestrafen, die Verwirklichung einer ... entgegengesetzten Idee zu betreiben, rächte sich Marx auf seine Weise“, berichtet Bakunin. „Er war Redakteur der in Köln erscheinenden ,Neuen. Rheinischen Zeitung'. In einer Nummer las ich eine Korrespondenz aus Paris, in der gesagt wurde, daß Frau George Sand, mit der ich einst bekannt war, jemand gesagt haben solle, man müsse sich vor Bakunin hüten, denn es sei wohl möglich, daß er so etwas wie ein russischer Agent sei.

Diese Anklage fiel mir plötzlich wie ein Dachziegel auf den Kopf, gerade als ich in voller revolutionärer Organisation begriffen war, und lähmte mehrere Wochen lang meine Tätigkeit vollständig. All meine deutschen und slawischen Freunde hielten sich von mir fern.“

Bakunin wandte sich unverzüglich an George Sand, die sofort einen Brief an die „Neue Rheinische Zeitung“ sandte, worin sie schreibt: „Die von ihrem Korrespondenten mitgeteilten Tatsachen sind gänzlich falsch und haben nicht den geringsten Schein der Wahrheit.“

Der Brief wurde am 3. August 1848, freilich mit einer eher hämischen Einleitung, veröffentlicht. In die Enge getrieben, redete sich Marx schließlich auf den Pariser Korrespondenten, den Kommunisten Dok-tof H. Ewerbeck, aus, nicht ohne später die Angriffe in englischen Zeitungen wieder zu erneuern.

Die Ausrede auf den Korrespondenten war billig, denn Marx kannte Bakunin gut genug, um zu wissen, was er von solchen Gerüchten zu halten habe, und er war sich zweifellos über die Wirkungen im klaren, die der Abdruck solcher Verdächtigungen gerade durch seine Zeitung in revolutionären Kreisen haben mußte. Die bis heute bei Marxisten aller Schattierungen beliebte Methode, den Abweicher von der Parteilinie als Agent des „Klassenfeindes“ hinzustellen, war also schon bei Marx voll ausgebildet. Es fällt dem unvoreingenommenen Beobachter schwer, nicht die gerade Linie zu sehen, die von solchem Rufmord zu den blutigen Säuberungen Stalins führt.

Makabre Scherze werden Wirklichkeit

Daß Marx sogar derlei theoretisch erwog, zum mindesten mit dem Gedanken daran spielte, zeigt mit beklemmender Deutlichkeit der Bericht

Bakunins über eine Begegnung in Berlin, einige Monate nach den Verleumdungen in der „Neuen Rheinischen Zeitung“:

„Gemeinsame Freunde zwangen uns, uns zu umarmen. Und dann, während eines halb scherzhaften, halb ernsthaften Gespräches, sagte mir Marx: .Weißt du, daß ich jetzt an der Spitze einer so gut disziplinierten geheimen kommunistischen Gesellschaft stehe, daß, wenn ich einem Mitgliede derselben gesagt hätte: geh und töte Bakunin, er dich wirklich töten würde?'

Ich antwortete ihm, daß, wenn seine geheime Gesellschaft nichts anderes zu tun habe, als Leute zu töten, die ihm mißfallen, sie nur eine Gesellschaft von Bedienten oder lächerlichen Prahlhänsen sein könne.“

Autoritärer Antiautoritarismus

Die leidenschaftliche Ergebenheit für die Sache des Proletariates, die auch Bakunin dem Gegenspieler bescheinigt, überzeugt freilich unter diesen Umständen nicht mehr ganz. Gewiß, auch Revolutionäre haben ihre menschlichen Schwächen und diese sind beileibe kein Beweis gegen die Revolution. Aber ist es glaubhaft, daß die eigentliche Triebfeder eines so ausgeprägten Egozentrikers wie Marx tatsächlich die selbstlose Liebe zu den Unterdrückten und Benachteiligten- war? Scheint es sich hier nicht doch eher um Projektionen der eigenen Schwierigkeiten und Zielsetzungen auf die Allgemeinheit zu handeln, um eine Eingliederung des Sozialen und Politischen in das eigene narzißtische Ich?

Ernst Kux etwa sieht in Marx den typischen romantischen Intellektuellen, der seinen intellektuellen Subjektivismus als Objektivität stilisiert; es ist daher kein Zufall, daß sich die revolutionären Intellektuellen von heute, die im Grunde genommen neoromantische Subjektivi-sten sind, so ganz an Marx ausrichten.

Wo ist aber dann die Wurzel von Marxens Sozialismus zu suchen? Auch hier bringt uns Bakunin auf die Spur:

„Das Übel liegt in dem Suchen nach der Macht, in der Liebe zur Herrschaft, dem Durst nach Autorität, und Marx ist tief von diesem Übel verseucht.“ Nicht „leidenschaftliche Ergebenheit“, sondern Machtgier war also die eigentliche Triebfeder Marxens.

Nun mag man Bakunin des Grolles gegen Marx zeihen und damit seine Feststellungen vom Tische fegen. Aber machen wir es uns da nicht zu einfach? Beweisen die Anerkennung, die der Russe dem Deutschen trotz aller erlittenen Unbill zollt, die Vorsicht, mit der er ihn beurteilt, die Entschuldigungen, die er für ihn, auch gegen die Anwürfe Dritter, findet, nicht deutlich genug sein ehrliches Ringen um Objektivität?

Und sind die Fehler, die Bakunin Marx zur Last legt, nicht gerade jene, die vergröbert und vergrößert das Antlitz des heutigen Marxismus in seinen verschiedensten Spielarten prägen? Immer wieder zeigt dieser seine Anziehungskraft für Machtgierige, wird zum leutseligen Vorwande für die Ausübung unumschränkter Macht. Marxismus, das erweist sich immer wieder, ist Antiautoritarismus zwecks Erringung der unumschränkten Autorität; seine Verrichtungen zur Machtvernichtung dienen gleichzeitig als Speicher für schrankenlose Gegenmacht. Und gerade heute erhalten wir neuen Anschauungsunterricht für diese dem Marxismus innewohnende Automatik.

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