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Das Argument der Wirklichkeit

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DER GELENKTE MENSCH. Von Felix Butschek. Von Marx bis heute. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. 64 Seiten. Preis 18 S.

Der Marxismus ist, gerade weil auch Reflex der industriellen Revolution, auf eine vorindustrielle Gesellschaftsordnung fixiert. Durch die Aufspaltung des handwerklich-ganzheitlichen Arbeitsprozesses im Rahmen der Konstitution der beruflichen und der betrieblichen Arbeitsteilung (diese beginnt mit dem Fertigungssystem der Manufaktur) ist es zu einer Selbstentfremdung des Menschen gekommen, zu einer Enthumanisierung des Arbeitsprozesses. Um diese Selbstentfremdung zu liquidieren, um dem Menschen wieder die volle Dispositionsmacht über seine Arbeitskraft zu vermitteln und um ihn auch in sein Eigentum wieder einzusetzen, bedarf et nach Ansicht des Marxismus einer neuen, der kommunistischen Ordnung. Die von

Marx analysierte gesellschaftliche und ökonomische Situation, eine historische und insoweit einmalige Epoche in der Entwicklung, wird im Denken des Marxismus konserviert. Jede nachfolgende Epoche in der Geschichte der Menschheit muß es sich gefallen lassen, so dargestellt zu werden, als ob sie jener Epoche gleiche, die etwa Engels in der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ dargestellt hatte.

Anderseits glaubt der Marxismus, trotz steter Hinweise auf das Wissenschaftliche seiner Denkweisen, daß eine sozialistische Gesellschaftsordnung eine perfekte Harmonie im Zusammenleben der Menschen herbeizuführen vermöchte. Die Annahme einer geradezu absoluten Spontanität für das Handeln der Menschen, die, angesichts einer nicht übersehbaren Fülle von Gütern, arbeiten können (aus „Sport“) oder sich in Meditation versenken, je nach Belieben, ist billige Utopie und in der marxistischen Praxis längst ausgegeben worden. Man kann nicht behaupten, daß etwa im Osten die geradezu legitime Chance bestünde, sich von jeder Erwerbsarbeit zu distanzieren. Auch die marxistische Gesellschaft kann aus der Logik der Tatsachen heraus keine Müßiggängerklasse sein, die von einigen noch arbeitenden Narren ernährt wird.

Bevor noch der Marxismus zur geschichtlichen Erfahrung wurde, hat bereits der erste Revisionismus versucht, die Thesen des Marxismus an die Wirklichkeit anzupassen und auch die Sorge um den konkreten Menschen (und nicht allein um ein Abstraktum „Arbeiterklasse“) zum Gegenstand von Maßnahmen zu machen. Die sympathische Nüchternheit eines Bernstein wurde im Sozialismus der Jahrhundertwende nicht ausreichend gewürdigt und im nichtsozialistischen Lager, das gierig jede „Zersetzungserscheinung“ im Sozialismus registrierte, lediglich als Argument gegen den Marxismus benutzt. Man vermochte damals noch nicht zu erkennen, daß Bernstein da fortsetzte, wo die Frühsozialisten, vom attraktiven Prophetismus eines Marx überwältigt, zum Schweigen gebracht worden waren. Je eindrucksvoller sich das, was man Marxismus-Leninismus nennt, als Erfahrung darbietet, um so mehr erfährt der erste Revisionismus eine wenn auch späte Rechtfertigung.

Im zweiten Revisionismus, der seinen Standort ebenso in dem sich orthodox gebenden Marxismus wie im demokratischen

Sozalismus hat, werden die Einsichten in den realisierten Marxismus — als historisches Phänomen — reflektiert. Der Marxsche Sozialismus, der sich (makro-wie mikroökonomisch) oft in einem peinlichen Utopismus befindet, wird weithin abgelehnt. Nicht Marx als Ganzes, sondern das an der Marxschen Prophetie, was sich offenkundig als unvollziehbar erweist.

Einer der Führer der katholischen Sozialisten, Felix Butschek, legt nun eine kleine Studie vor, die man, angesichts der Entwicklung im Sozialismus, nicht übersehen darf, ist doch das, was Butschek sagt, repräsentativ für das Denken einer großen Gruppe im Sozialismus, vor allem jener, die, in der Wirtschaftsordnung engagiert, die Thesen von Marx mit den laufend zuwachsenden Erkenntnissen der modernen Nationalökonomie konfrontieren muß.

Butschek sieht die Entfremdung des Menschen, die man als Faktum nicht bestreiten kann, nicht so sehr durch die Arbeitsteilung bestimmt, weil diese, aus der sachgesetzlichen Dynamik des Arbeitsprozesses festgelegt, unvermeidbar ist. Will der Marxismus auch eine Wirklichkeitswissenschaft — und nicht nur Glaube — sein, muß er sich den Tatbeständen offen zeigen und darf nicht davon ausgehen, daß nicht ist, was nicht sein soll. Mehr noch, gerade infolge der Arbeitsteilung, durch die gestiegene Arbeitsproduktivität, war erst eine Entoroletarisierung des Arbeiters, die außerordentliche Anhebung seines Lebensstandards, möglich. Der Sozialismus (der unorthodoxe Gewerkschafts-flügel) bediente sich gerade der Effekte der Arbeitsteilung, um seine Forderungen durchzusetzen, die kaum realisiert worden wären, hätte es nicht relativ gewachsene Güterfonds gegeben, die sich einer Verteilung geradezu darboten.

Dagegen verschließt sich Butschek nicht der Einsicht, daß es eine Manipulation des Menschen gibt, eine Lenkung seines Verhaltens. Diese Manipulation vollzieht sich aber nicht so sehr im Bereich der Erwerbsarbeit, sondern in den Regionen des Konsums, vor allem auf dem Terrain der Freizeitgesellschaft. Die Massenmedien wirken heute unfiltriert auf den Menschen ein, sie bemächtigen sich seiner auf der Straße und im Heim.

Butschek geht, weil Christ und weil Wirtschaftswissenschaftler, in seiner Analyse der Arbeits- und der Freizeitgesellschaft von Real- und nicht von Idealtypen aus. Der Sozialismus soll nach Butschek, nicht bei' den Utopisten ansetzen, die realitätsfremde Proportionen setzen, sondern bei der Wirklichkeit.

In der Gegenwart kann sich der Mensch nur als Ding erleben. Er ist ein den vielfältigen Anboten Ausgesetzter, ob sie nun aus dem kapitalistischen Sektor kommen oder aus den Regionen „sozialistischer“ Wirtschaft, wie sie sich als Stadthalle und (morgen schon) im Donauturm anbietet. Die Menschen sind weithin außengelenkt, daher „reduziert“, und werden in neuartiger Weise ausgebeutet.

Butschek ist daher der Ansicht, daß die Ausbeutung nicht allein durch eine konforme Sozialgesetzgebung verhindert werden kann, sondern auch durch eine Einflußnahme auf die Massenmedien, die sich der ihnen verfügbaren Freiheit in einer unzukömmlichen Weise bedienen.

Will der Sozialismus zu einem Selbstverständnis kommen, muß er daher davon absehen, sich ausschließlich mit der Welt der Arbeit zu befassen. Die Probleme der Gegenwart haben ihren Standort jenseits der sicher zu einem Teil hervorragenden und für die gegebene historische Situation weitgehend gültig gewesene Analysen von Marx. Wenn der Sozialismus mehr sein will als eine Bewegung, welche die Arbeiterschaft aus den Niederungen des Hochkapitalismus herausführen wollte, muß er sich aber anpassen: an die Wirklichkeit, die kontinuierlich neu zu interpretieren und jeweils gegenwartskonform zu manipulieren ist. Butschek vermag diesen Sachverhalt in einer überzeugenden Weise darzustellen.

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