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Sozialismus auf neuen Wegen

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Der niederländische Sozialismus machte bereits vor dem zweiten Weltkrieg eine bedeutungsvolle Phase von Einkehr, Besinnung und Läuterung durch und er setzt sie jetzt fort. Gegenüber der sozialen Realität versagen die alten Formeln marxistischer Dog-matik und zwingen den niederländischen Sozialisten zur Neuorientierung.

Die marxistische Propaganda, gestützt auf die Theorien ihres Begründers, mehr aber noch auf die Auffassungen der Epigonen und reagierend auf ein gewisses Versagen der christlichen Praxis im sozialen Leben, hatte Christentum und Sozialismus wie Feuer und Wasser gegenübergestellt. Heute aber, auf Grund der Tatsachen, scheint der Sozialismus den Weg zurück zu den sittlidien und transzendentalen Werten des Christentums zu finden.

Schon im Jahre 1915 erklärte Troelstra, der Führer der holländischen Sozialisten: „Der historische Materialismus kann auf die Dauer die religiöse Veranlagung der Menschen nicht befriedigen.“ Einige Jahre später hörte man aus dem Munde eines angesehenen Amsterdamer Universitätsprofessors: „Die Seele hat sich geweigert nur Materie zu s in.“ In der Tat, in den Naturwissenschaften, der Psychologie und Rechtswissenschaft, auf al'en Gebieten des menschl:chen Denkens eroberten die geistigen Mächte ihr Recht zurück. Der Glaube des 19. Jahrhunderts, daß die Wissenschaften bald den letzten Schleier von dem Geheimnis des Lebens und der Welt wegziehen würden, erwies sich als eine Vorstellung aus einem kindlichen Traum. Der Materialismus wurde durch die Wissenschaft gewogen und zu leicht befunden. Dem Marxismus, Kind der gleichen Zeit wie das rfaturwissenschaftliche Denken und mit dem Materialismus jener Zeit innig verbunden, entschwand der Boden unter den Fussen! „Man versteht heute besser“, schreibt die große sozialistische Dichterin Henriette Roland Holst, „daß es keine aussdiließlich ökonomischen Erscheinungen gibt und daß die Ökonomie ein Unterteil von etwas Größerem, Allgemeinerem ist, von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Kultur.“ Die neuen sozialistischen Theoretiker in den Niederlanden, Brailsford, Hendrik de Man, Paul Tillich, Eduard Heimann, sie bauten alle nicht mehr auf Marx' weiter, sondern entfernten sich immer deutlicher von ihm. Der religiöse Sozialismus war eines der Resultate dieser Entwicklung. Geert Ruygers, der auf guten Grundsatzboden stehende Katholik, der an führender Stelle in der neuen Partei der Arbeit, die das Erbe der sozialdemokratischen Partei angetreten hat, wirkt, schreibt unter anderem in seinem Buch „Socialisme vroeger en nu“ (Sozialismus früher und heute):

„Wir stehen vor einem neuen Beginn. Wir wollen nicht versuchen, Christentum und Marxismus miteinander zu versöhnen, denn der Marxismus hat sich als Weltanschauung überlebt. Durch die Überwindung des Marxismus ist aber endlich ein Sozialismus auf diristlidier Basis möglich geworden. Dadurch können viele Menschen gute Sozialisten werden, gerade weil sie gute Christen sein wollen, wenn nur der Sozialismus sich in seiner Arbeit auf dieser Welt an die christlichen Normen gebunden fühlt und wenn nur das Christentum den Sozialismus als die große gesellschaftliche Bewegung sehen kann, die vereinigt mit allen, die guten Willens sind, in den konkreten Umständen von hie et nunc für eine Verwesent-lichung der hohen Ideale der Persönlichkeit, Gemeinschaft und Gerechtigkeit ringt.“

Überwunden istauch im Sozialismus der Niederlande die These vom Klassenkampf auf Tod und Leben, der allein zur sozialen Gesellschaft führen sollte, und heute ist dieser Sozialismus nicht nur mehr eine Sache des internationalen Proletariates. Die Wirklichkeit lehrte, daß das Los der Arbeiterklasse von dem der nationalen Gemeinschaft nicht trennbar ist. Und man weiß heute, daß die Arbeiterklasse in Wahrheit die Gemeinschaft' des gesamten arbeitenden Volkes sein seil.

Denn es ruft die soziale Frage nicht nur für die Arbeiterklasse allein um Lösung. Darum zeichnet sich überall eine immer deutlichere Tendenz ab von einer internationalen Arbeiterbewegung zu einer vaterländischen sozialen Volksbewegung zu gelangen, ohne damit das Weltbürgertum aufzugeben. Auch in Holland entfernte sich der Sozialismus nicht allein von den marxistisdien Dogmen, sondern auch von der Überzeugung, daß der Sozialismus e'ne alleinige Angelegenheit der Arbeiterklasse sei. Auch hier führte der Weg von einem Klassenmonopol zu einer Volksbewegung. Noch in dem Parteiprogramm der SDAP (1937) hieß es unter anderem: „So durchdringt immer mehr ein allgemeiner Gegensatz die ganze Gesellschaft, nämlich der zwischen Ausgebeuteten und Ausbeuter.“ In dieser Formulierung waren noch die alten Vorstellungen eingeschlossen, wie hier noch alt und neu miteinander verflochten sind. Dann kam der Krieg, der Volk und Land überfiel und inmitten von Not und Trümmern auch neue Erkenntnisse aufkeimen ließ. Schon 1910 sagte Troelstra:

„In jedem Mensdien lebt der Drang an etwas zu glauben, das über ihm steht, sich als ein Teil von dem Größeren zu fühlen, dem Bleibenden, das bereits war, als er noch nidit war, und sein wird, wenn er nicht mehr sein wird. Dem kann und will er jenen Teil von sich selbst geben, der in seinem Werk und Leben Form gefunden hat, der ihn nach seinem Tode überleben wird, jener Tropfen, der von s,einer Existenz im Strom der Ewigkeit übrigbleibt. Das Vaterland bindet den Menschen mit dem feinsten und stärksten Band, das man sich denken kann.“

Es offenbart sich schon in diesen Worten die Abkehr von den Auffassungen des alten Internationalismus, ein Aufgesch'.ossensein für den Gedanken der nationalen Volksverbundenheit durch das gemeinsame Vaterland.

Die damals einsetzende Entwicklung kann heute als abgeschlossen gelten. Das Parteiprogramm von 1937 stellt ausdrücklidi fest, daß „die sozialdemokratische Bewegung sich durch die historische . Schicksalsgemeinschaft dem niederländischen Volk verbunden fühlt und fortbaut auf den besten niederländischen Traditionen geistiger Freiheit und Toleranz“. Die Realität dieser Sätze haben die holländischen Sozialisten in jenen Maitagen 1940 am eigenen Leibe gespürt, als ihr Land überfallen wurde. Der Begriff des Vaterlandes hatte auf einmal für sie bittersten Inhalt empfangen, einen Inhalt, der wohl zeitweise durch internationale Parolen verdunkelt werden konnte, sich aber schließlich in jenen kritischen Tagen mit unwiderstehlicher Kraft offenbarte. In einem spontanen Gefühl von Vaterlandsliebe haben sich Sozialisten zu Tausenden zu den Waffen gemeldet. In der Zeit des gemeinsamen unterirdischen Widerstandes nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen fielen dann die alten trennenden Mauern und wurde der Wunsch nach einer gemeinsamen großen sozialen Volksbewegung nach dem Kriege immer stärker. Die hieraus dann erwachsende niederländische Volksbewegung stellte die erste Stufe einer Verwesentlidiung des großen neuen Ideales eines „personalistischen Sozialismus“ dar.

Auch in der Frage des Privateigentums hat sich der Sozialismus von heute vom Marxismus von gestern weit entfernt. Es geht nicht mehr um die Abschaffung jeglichen Privateigentums an Produktionsmitteln„ sondern um Sozialisierung der Verfügungsmacht über die wichtigsten Produktionszweige, die in den Händen einzelner der Gemeinschaft schweren Schaden zufügen könnte.

Aber auch im nichtsozialistischen Lager gewann ein neuer Gemeinschaftsbegriff Platz. Hier war vor allem die Entwicklung der Wirtschaft durch den Krieg von entscheidender Bedeutung. So nähern sich langsam die Fronten. Vor dem Streben, die Dinge der Wirtschaft so zu sehen, ie sie wirklich sind, und dem allgemeinen Wohl am meisten dienen, weichen die starren theoretischen Doktrinen. So ist die Ubereinstimmung in der wichtigen Frage des Privateigentums auf gutem Wege der Verwirklichung. Man erkennt auf der einen Seite, daß es ein natürliches, menschliches Recht auf Privateigentum gibt und auf der anderen, daß der BegriF Eigentum keine für alle Zeiten völlig unveränderliche Größe darstellt, daß auf jedem Privateigentum eine soziale Hypothek lastet und es die Umstände verlangen können, daß bestimmte Betriebe dem privaten Verwaltungsbereich entzogen werden müssen.

Der niederländische Sozialismus — und vielleicht wird er ein Beispiel — hat heute einen anderen Inhalt bekommen, er hat sich mit der Realität des Lebens entwickelt. Es greift in ihm die Erkenntnis Platz, daß die tatsächlichen Gestaltungen die Voraussetzungen, von denen Marx und Engels in ihren Lehren ausgingen, heute in einer damals noch nicht vorstellbaren Weise sich verändert haben und damit auch die marxistische Theorie den Boden unter sich verloren hat, also der Sozialismus, wenn er nicht vor lauter veralteter Theorie und Tradition ersticken will, sich nach der tatsächlichen Umwelt zw orientieren 'hat. Eines ist ihm geblieben: das Ideal der Gerechtigkeit. Dies ist sein tiefstes Wesen, seine sittliche Idee und damit erhält er auch seine zeitlose Bedingtheit. Denn um Gerechtigkeit wird gestritten werden, solange Menschen auf Erden wohnen. Die Idee der Gerechtigkeit verbindet auch das Wesentlichste des alten mit dem neuen Sozialismus. Nicht das Doktrinäre, sondern das Ethische ist der bleibende Wert im Sozialismus, denn die ethischen Werte haben das Doktrinäre überlebt und stehen heute wieder aufs neue auf, Stellungnahme erfördernd.

Die sittliche Idee der Gerechtigkeit bedeutet aber noch mehr, sie ist die Brücke, auf der sich Menschen begegnen können, die bis heute noch verschiedene Wege gehen mußten, aber doch zu gemeinsamen Zielen sich zusammenfinden können.

Der Staat der Zukunft muß ein Staat des Rechts sein, an Rechtsnormen gebunden, die unabhängig von der Willkür von Individuen und Völkern, Rassen und Staaten, ihren Ursprung finden in einem Glauben an eine, alle Menschen verpflichtende absolute und sittliche Gerechtigkeitsidee, auf was immer man auch diese Idee letzten Endes persönlich zurückführen mag. Hier ist der Anknüpfungspunkt zwischen den Christen und den humanistischen Sozialisten. Der bekannte holländische Soziologe Pater Dr. Angelinus sagte einst: „Wenn dasjenige, was wir wollen, nur dasselbe it, dann macht es nicht viel aus, daß die Gründe, warum wir es wollen, verschieden sind.“

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