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Von Prometheus zu Konstantin

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In der Internatsschule der steirischen Ärbeiterkammer in Graz-Stifting vollzog sich ein dreitägiges Gespräch zwischen Seelsorgern der Diözese Wien und Betriebsräten aus ganz Österreich, vorwiegend sozialistischer Fraktion. Dem Leiter der Schule, DDr. Rupert Gmoser, war damit eine meines Wissens erstmalige Begegnung zu danken, aus deren Anlaß die folgenden grundsätzlichen Erwägungen entstanden sind.

Der Sozialismus in Österreich begann seine Laufbahn — als seinem Wesen oder doch seiner Herkunft nach marxistischer Sozialismus — mit Feindschaft gegen Religion und Kirche.

Sie waren ihm Hindernis für die politische, soziale, geistige Emanzipation des Menschen, Opiate für dessen revolutionäre Kräfte.

Dies ist, außer falsch, auch wahr. Wenn der Mensch durchaus oder fast durchaus böse wäre, bedürfte er der totalen Bindung seiner revolutionären Kräfte. Wenn der Mensch durchaus oder fast durchaus gut wäre, bedürfte er keiner oder fast keiner solchen Bindung. So aber, da der Mensch gut und böse ist, ist der Satz von der Opiatwirkung der Religion insofern falsch, als Religion Revolution durchaus nicht schlechthin zu behindern braucht; und insofern wahr, als Religion Revolution nicht bis zur totalen Bindungslosigkeit gedeihen läßt. „Religio“ heißt „Bindung“. Religion ist tatsächlich die Fessel des Prometheus. Was den Prometheus bindet, ist, lehrt der Mythos, göttliche Macht.

Religion verhindert nicht die — gegebenenfalls revolutionäre Selbstverwirklichung der Menschennatur. Sie ermöglicht diese überhaupt erst, und zwar, indem sie verhindert, daß dem übernatürlichen Wesensbestandteil des Menschen Schaden widerfährt. Prometheus rebelliert, um der irdischen Selbstverwirklichung des Menschen willen, gegen dessen überirdische Bindung („religio") und wird deswegen seinerseits, gebunden. Und dem Prometheus įrflt.-’liicht züÄffigerweise, das' schrankenlose Sympathiebekenntnis des jungen Marx in dessen Doktordissertation.

Das Opium des Volkes

Auf dieser heroischen Primitivstufe des Antitheismus hält der Kommunismus offiziellermaßen heute noch. In der Praxis, und allmählich sogar der Theorie nähert er sich der nächsten Phase; statt Antitheismus Atheismus; statt Feindschaft Neutralität; genauer: bei fortdauernder Feindschaft als esoterischem Kern der Lehre, Neutralität als nützlicher Bestandteil der exoterischen Praxis. Für die Eingeweihten weiterhin: „Religion ist Opium des Volkes“; für die — und zugunsten der Massenbewegung: „Religion ist Privatsache“. Sie soll nicht hindern, daß Leute, die (beiseite gesprochen: aus Dummheit) immer noch religiös sind, am Kampf gegen die bestehende Unrechtsordnung teilnehmen.

Diese zweite Phase, der sich der Kommunismus gegenwärtig mühsam nähert, erreichte der österreichische Sozialismus schon sehr früh — weil er schon sehr früh eine Massenbewegung war, wogegen der Kommunismus seine historischen Erfolge zunächst mittels winziger revolutionärer Minderheiten errang.

Heute, da der Kommunismus zumindest teilweise als Massenbewegung gelten muß, behindert ihn diese, seiner neuen sozio-politischen Phase nicht mehr entsprechende Ideologie des Antitheismus. Er liefert ein Beispiel mehr für das Marxsche Gesetz, daß sich der ideologische Überbau nicht gleich schnell umwälzt wie die reale Basis, sondern bloß „langsamer oder rascher“. Die langsamere Umwälzung ist von Marx an erster Stelle genannt; sie ist der Regelfall. Erst neuerdings hat die diesbezügliche ideologische Umwälzung des Kommunismus raschere Gangart angenommen.

„Religion: eine Privatsache“

Das Verdienst für die exakte theoretische Fixierung der zweiten Phase verborgener Atheismus statt offenem Antitheismus, taktische Neutralität bei fortdauernder innerer Feindschaft gebührt hierzulande dem Austromarxismus. In einer gesonderten theoretischen Arbeit, -Ferner dem ydser Programm 1926, ferner auf dem Linzer Parteitag 1926 legte Otto Bauer dar:

Erstens, daß die Religion als eine Abart sonstiger Dummheit, mit der Herstellung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung und der damit verknüpften allseitigen wissenschaftlichen Bildung aller Menschen, mit aller anderen Dummheit von selbst aussterben werde.

Zweitens, daß dies und nur dies der Weg zur Bekämpfung der Religion sei, wogegen aktiver Kampf gegen sie jetzt und hier, die „religiösen Gefühle" breiter Massen verletzen und diese dem Kampf um die sozialistische Gesellschaft entfremden müßte; damit aber werde in einem Lande wie Österreich die Erringung der Mehrheit überhaupt unmöglich.

Progfamm ungeeignet.

In' solchem Zusammenhang wird klar, daß der Satz „Religion ist Privatsache“ — obgleich gegenüber „Religion ist Opium des Volkes" eine Art Fortschritt — nicht bloß sachlichen Inhalt hat, wie manche seiner Apologeten es wahrhaben wollten und wollen: Religion könne durchaus etwas Wichtiges und Respektables sein, aber eben nur im persönlichen Bereich, als res privata, nicht als res publica, mit staatlichen Machtmitteln erzwingbar, und dergleichen mehr. Vielmehr schwingt auch mit: Religion als derzeit zweckmäßigerweise zu duldende, ohnehin auf dem Aussterbeetat befindliche Privatsache.

Achtung für die Religion

Man weiß, daß die zweite Stufe im Verhältnis zwischen Religion und Kirche einerseits, Sozialismus in seiner historisch konkreten Gestalt anderseits

„Religion ist Privatsache“, d. h. sachlich: nicht Staatssache, gefühlsmäßig: bedeutungslose Privatschrulle in Österreich heute schon von einer dritten Stufe überhöht wird, und zwar seit dem Parteiprogramm der SPÖ des Jahres 195 8. An die Stelle der Neutralität und Indifferenz, zu schweigen von offener Feindseligkeit, ist die Respektsbezeugung getreten, freilich vorläufig noch recht unbeholfen und mißverständlich ausgedrückt.

Religion wird im neuen Programm nicht mehr als Privatsache definiert, sondern als innerste persönliche Überzeugung, und somit als Gegenstand der Achtung aller Sozialisten

Des weiteren wird der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß Sozialismus und Christentum durchaus miteinander vereinbar seien. Das „oberste Stockwerk“ der marxistisch-sozialistischen Weltanschauung — Atheismus und philosophischer Materialismus — wird ausdrücklich preisgegeben.

Für den Übergang von der zweiten Stufe zu dieser dritten gibt es mehr Gründe als den der bloßen „taktischen“ Opportunität. Auch dieser Grund ist im übrigen kein verwerflicher. Politische Bewegungen handeln naturgemäß aus politischen, nicht aus religiösen Motiven. Man hat den Sozialismus bisher für unakzeptabel erklärt, weil er nicht bloß politische Partei, sondern komplette Weltanschauung sei — Atheismus, philosophischer Materialismus. Man kann ihn nun nicht für unakzeptabel erklären, weil er keine Weltanschauung mehr sein will — auch keine religiöse, christliche, katholische, sondern eben nur sozio- politische sittliche Bewegung, die auf Grund ihres naturrechtlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes mit Religion,, Christentum, katholischem Christentum durchaus vereinbar sei.“

Zum Maßstab solcher Sinnesänderung — von Feindschaft erst zu Neutralität, sodann zu Sympathie gegenüber der Religion — wird man vielmehr nehmen müssen, ob die Änderung ehrlichen Herzens, das heißt nicht bloß zum Schein und somit lügenhaft erfolgt ist, so daß die Vereinbarkeit von Sozialismus und christlicher Religion wirklich vorhanden ist. Daß die Veränderung erfolgte, um Anhänger und Wähler zu gewinnen und somit an die Regierung zu gelangen, wird man hingegen einer politlsffi vorwerfen dürfen.

So'unbillig es ist, wenn die Kirche dem Sozialismus vorwirft, er beziehe seine Stellung zur Religion aus politischen Motiven, so unbillig ist es, wenn die Sozialisten der Kirche vorwerfen, sie beziehe ihre Stellung zur Politik aus religiösen Motiven. Diese sind vielmehr der Kirche angemessen wie dem Sozialismus die politischen Motive. Die Kirche hat sich — berechtigtermaßen, nämlich: um ihre religiösen Aufgaben erfüllen zu können — mit den herrschenden politischen Mächten im größtmöglichen Ausmaß arrangiert. Sie vollzog ihren Übergang von Feudalismus zum Bürgertum, sie vollzieht nun ihren Übergang vom Bürgertum zu den neuen Realitäten.

Dies ist der zweite Grund, ebenso wesentlich wie der „taktische“ Grund der politischen Opportunität, aus dem der Sozialismus seine Haltung zur Religion und Kirche verändert. Die beiden Gründe stehen in Wechselwirkung und verstärken einander. Sie sind beide berechtigt und begrüßenswert.

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