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Digital In Arbeit

Zu neuen Ufern

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Bei den diesjährigen Alpbacher Hochschulwochen sprach im Rahmen einer international vielbeachteten Diskussion „Rechts und Links“ der Internationale Sekretär der holländischen Partei der Arbeit, Alfred M o z e r, einer der prominentesten Vertreter des demokratischen Sozialismus in Europa, Uber innere Wandlungen und Entwicklungen des freiheitlichen Sozialismus in den letzten 50 Jahren. „Die Furche“ gibt aus dem umfangreiche Referat im folgenden zwei Auszüge, weil sie dieses wichtige Dokument ihren Lesern zur Kenntnis bringen möchte, ohne sieh natürlich mit den darin vorgetragenen Thesen zu identifizieren. Mozers Ausführungen sind Muster der Selbstbesinnung und Selbstkritik in einem anderen politischen Raum, die uns zudem 'Materialien zur Verfügung stellen, die bei uns wenig bekannt oder beachtet sind. Die Redaktion

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Bei den diesjährigen Alpbacher Hochschulwochen sprach im Rahmen einer international vielbeachteten Diskussion „Rechts und Links“ der Internationale Sekretär der holländischen Partei der Arbeit, Alfred M o z e r, einer der prominentesten Vertreter des demokratischen Sozialismus in Europa, Uber innere Wandlungen und Entwicklungen des freiheitlichen Sozialismus in den letzten 50 Jahren. „Die Furche“ gibt aus dem umfangreiche Referat im folgenden zwei Auszüge, weil sie dieses wichtige Dokument ihren Lesern zur Kenntnis bringen möchte, ohne sieh natürlich mit den darin vorgetragenen Thesen zu identifizieren. Mozers Ausführungen sind Muster der Selbstbesinnung und Selbstkritik in einem anderen politischen Raum, die uns zudem 'Materialien zur Verfügung stellen, die bei uns wenig bekannt oder beachtet sind. Die Redaktion

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Das Kernstück des Marxismus ist der historische Materialismus. Er umfaßt zwei Lehrsätze, nämlich die Behauptung von der geschichtlichen Notwendigkeit alles Geschehens und außerdem — philosophisch gesprochen — vom Stoff als letzter, alleiniger Ursache aller Veränderungen. Eduard Bernstein nannte den Materialisten einen „Kalvinisten ohne Gott“. Jede Entwicklung ist nach materialistischer Auffassung deterministisch bestimmt, ist naturnotwendig. Die sogenannte Weiterentwicklung des historischen Materialismus im Leninismus und im Stalinismus zum „dialektischen Materialismus“ ist nur eine nähere methodische Umschreibung und ändert am Kern des historischen Materialismus nichts. Ob der Determinismus ein widerspruchsloser Ablauf ist oder sich dialektisch in der Negation der Negation vollzieht, kann methodisch interessant sein, berührt jedoch nicht das Wesen dieser Naturgesetzlichkeit.

Außer diesem deterministischen Grundsatz ist entscheidend der materialistische Charakter der einzigen Triebkraft aller Entwicklung, der Stoff. Mit den Worten Marxens aus der Einleitung zur politischen Oekonomie auf die Gesellschaft angewandt: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“

Diese wenigen Sätze konfrontieren uns mit einer Fülle von Problemen. Die Kritik am Marxismus mußte aus den eigenen Reihen kommen, sollte sie ernsthafte Beachtung erfahren. Sie kam mit jener berühmten Schrift Eduard Bernsteins im Jahre 1899 unter dem Titel: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“.

An diesem Buch entzündete sich jener Streit, der dann unter dem Namen des Reformismus die großen sozialistischen Parteien jahrzehntelang beherrscht hat, zu den Spaltungen zwischen Sozialisten und Kommunisten führte und als Verwässerung des Sozialismus und als seine Bleiche zum rosaroten Sozialismus diskriminiert wurde.

Einer sozialistischen Bewegung, die die Gewißheit des Zusammenbruches der bestehenden Gesellschaft und außerdem die Sicherheit ihrer geschichtlichen Stunde in der Tasche hatte, bot Bernstein außerordentlich wenig. Er zog ihre Gewißheit und ihre Sicherheit in Zweifel und bot ihr nichts Gleichwertiges. Eingedenk des berühmten Wortes, daß nur ein Lump mehr gibt, als er hat, machte er auch keineswegs ein Geheimnis aus seinen leeren Händen. Als ihm sein mangelndes Angebot vorgehalten wurde, bekannte er sich durchaus zu jenem, geflügeltes Wort gewordenen Satz, der jeder Heilsbotschaft widersprach: Das Ziel ist nichts, die Bewegung alles! Charles Gide und Charles Rist haben in ihrer Dogmengeschichte der Nationalökonomie den Spott mit ihm getrieben und jenen Satz einen Vorabdruck der Philosophie von B e r g s o n genannt.

So betrachtet, ist überhaupt nicht zu begreifen, wieso Bernsteins Marx-Kritik die Diskussionen vieler nationaler und internationaler Sozialistenkongresse beherrschen konnte. Ich wage zu behaupten, daß man erst sehr viel später die wirkliche Bedeutung des Buches von Bernstein zu würdigen gelernt hat. Jedenfalls betrachte ich es als den entscheidenden Schritt für die Entfaltung eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus.

Bernstein hat die Mvthe des Marxismus zerstört. Sein begründeter Zweifel an der Naturnotwendigkeit aller Entwicklung u n d an der ausschließlichen Bestimmung jeder Entwicklung durch die Produktivkräfte und die Produktivverhältnisse ergab den Zwang zur Diskussion. Dadurch aber mußten sich die Geister scheiden. Wer die marxistische Gesellschaftsmythe unter allen Umständen erhalten wollte, durfte sie nicht der Diskussion und damit der Relativierung aussetzen. War sie dem nagenden Zahn der Vernunft nicht gewachsen, dann mußte sie mit Mitteln der Gewalt gegen die Gefahr der Diskussion und Analyse, gegen die Gefahr der Relativierung geschützt werden. Dann mußte mit allen Zwangsmitteln jede Diskussion über ihre Axioma verhindert werden und durfte nur ein Wiederkauen innerhalb der unantastbaren Dogmen erlaubt sein. In großen Buchstaben stand am Beginn dieses Weges: Wer weiterdenkt, wird erschossen!

Diejenigen jedoch, die nicht den Tatsachen verübelten, daß sie der Theorie widersprachen, standen am Anfang eines langen, mühseligen Weges, der sich durch die westliche Welt und ihre Normen hinzog.

Versuchen wir jetzt, an Hand einiger entscheidender Feststellungen von Bernstein gewissen Entwicklungslinien im demokratischen Sozialismus zu folgen, um den Wandel während eines halben Jahrhunderts zu erkennen.

Bernstein bestritt nicht, daß die gesellschaftliche Lage von Bevölkerungsgruppen und die

Produktivverhältnisse das Denken und Handeln der Menschen mitbestimmen, aber er bestritt' den ausschließlichen Charakter dieser Triebkraft.

Das aber bedeutete praktisch, daß er andere Triebkräfte gelten ließ, sowohl auf der geistigen Ebene wie auf der der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Man kann die Bedeutung dieser für uns vielleicht selbstverständlichen, aber damals von einem Sozialisten innerhalb einer von der Zusammenbruchtheorie überzeugten Bewegung ausgesprochenen Feststellung kaum überschätzen. Wenn das Denken und Handeln der Menschen nicht nur durch ihre Klassenlage und die Produktionsverhältnisse ihrer Zeit bestimmt werden, sondern andere Faktoren ebensogut Ursache dieses Denkens und Handeint ein können, dann war man verpflichtet, das Land der Blauen Blume zu räumen und sich mit der Wirklichkeit dieser Ursachen auseinanderzusetzen. Der ganze pluralistische Charakter der Gesellschaft wird plötzlich Wirkungsfeld sozialistischer Theorie und Praxis.

Konkretisieren wir diese Feststellung an einzelnen wichtigen Beispielen.

Wenn etwa Ideen oder glaubensmäßige Verpflichtungen nicht nur ein „Spiegelbild“, ein ideologischer „Ueberbau“ der wirtschaftlich determinierten gesellschaftlichen Verhältnisse sind, dann gilt es, sich mit der relativ selbständigen Kraft dieser Elemente auseinanderzusetzen. Um gleich zu einem aktuellen Thema zu schreiten: dann erweist sich der Spott mit dem Gottesglauben als ein peinlicher Selbstspott. Dann genügt es auch nicht, sich auf die Igelstellung zurückzuziehen, daß „Religion Privatsache“ sei. Dann zwingt diese Erkenntnis zu verschiedenen Klarstellungen. Erstens einmal, daß der Sozialismus auf seinen Anspruch, eine Weltanschauung und nicht nur eine Gesellschaftsordnung zu sein, verzichten nuß. Will er auf gesellschaftlicher Ebene die Mitarbeit aller derer erreichen, die in seinem Streben einen gerechtfertigten Versuch zur Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaft sehen, dann wird er davon ausgehen müssen, daß in dieser Gesellschaft die Erfüllung jener Verpflichtungen möglich sein muß für den Bürger, der sich durch seinen Glauben den normativen Forderungen seiner Konfession verpflichtet fühlt. Mehr noch. Dieser Sozialismus wird anerkennen müssen, daß zwischen Weltanschauung und Gesellschaftsauffassung Bindungen bestehen, die man nicht nur nicht negieren darf, sondern deren Förderung man pflegen muß. Das bedeutet zum Beispiel in der Praxis, daß dieser Sozialismus das, was man auf schulischem Gebiet im deutschen Sprachgebrauch „Elternrecht“ nennt, respektieren, ja mit zu verwirklichen sich verpflichtet fühlen muß. Wer ohne Vorurteil die Entwicklung innerhalb der sozialistischen Parteien betrachtet, wird zugeben müssen, daß sie in den letzten Jahren bestrebt sind, ihr Verhältnis gegenüber dem Glauben der Menschen und den kirchlichen Institutionen dieser Einsicht anzupassen. Kritik an gelegentlichen Rückfällen sollte nur derjenige üben, der auch den Mut hat, sich der — von Kirchenmännern aller Konfessionen oft scharf formulierten — Kritik zu erinnern, mit der die Bundesgenossenschaft der Kirchen mit den herrschenden Mächten im 19 Jahrhundert oder die Gleichgültigkeit vieler Christen jener Zeit gegenüber den menschenunwürdigen gesellschaftlichen Zuständen von damals gegeißelt wurde Auch hier lastet Tradition als ein Uebel auf uns, das nicht einseitig erklärt werden kann.

Wenn ich mir, aus meiner Kenntnis der Verhältnisse, sei es auch ein wenig Schematisch, hier ein Werturteil erlauben darf, dann ist wahrscheinlich die sozialistische Bewegung in den Niederlanden am konsequentesten diesen Weg neuer Einsichten gegangen. Die Frage des sogenannten Elternrechtes auf dem Schulgebiet hat sie bereits im Jahre 1902 durch einen Kongreßbeschluß anerkannt und damit dem Lande zwar zu einem teuren und komplizierten Schulsystem geholfen, jedoch gleichzeitig dem Lande jenen in vielen Ländern so verhängnisvollen Kulturkampf erspart. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die auf neuer Grundlage errichtete Partij van de Arbeid innerhalb ihrer Organisation drei weltanschauliche Arbeitsgemeinschaften, eine katholische, eine protestantische und eine humanistische, geschaffen, die ihre eigenen Zeitschriften haben. Ausgangspunkt dabei ist, daß an der Verwirklichung einer durch den Sozialismus erstrebten gerechten Gesellschaftsordnung Bekenner verschiedener Weltanschauungen mitarbeiten können, gerade wenn sie ihren christlichen Glauben oder ihre humanistische Weltanschauung sehr ernst nehmen. In den skandinavischen sozialistischen Parteien, und vor allem in der britischen Labour Party, bedarf es hier keineswegs eines „Durchbruches“. In der sozialistischen Bewegung dieser Länder mit ihrem empirischen Charakter hat der Marxismus nie die Wirkungen gehabt wie in vielen kontinentaleuropäischen Ländern. Belgien zeigt vielleicht die geringsten Ansätze in der Ueberwindung jenes Ueber-bleibsels einer unhaltbaren marxistischen Position. Viel wichtiger erscheint mir jedoch der Hinweis auf die sozialistischen Bewegungen in außereuropäischen Ländern, wo — wie etwa in Burma und Indien — das stark sozialistisch inspirierte gesellschaftliche Handeln ganz selbstverständlich in Einklang gebracht wird mit dem religiösen Charakter seiner Menschen.

Es verdient Erwähnung, daß das Tempo dieser Entwicklung, die im Einklang mit den besten Werten der westlichen Welt ist, nicht nur gehemmt wird durch den Widerstand atheistischer Atavismen bei einigen Sozialisten. Die Parteistruktur in einigen europäischen Ländern hat zur Bildung konfessioneller Parteien geführt, die vielfach den gesellschaftlichen Meinungsstreit durch die Tatsache ihrer Struktur verfälschen. Ein gläubiger Katholik oder Protestant kann sehr wohl und ohne in Konflikt mit seinen Glaubensverpflichtungen zu kommen, fortschrittlicher oder konservativer Haltung zuneigen. Sein Taufschein bestimmt nicht seine Gesellschaftsauffassung. Parteipolitische Formationen auf konfessioneller Grundlage verhindern jedoch saubere Fronten auf der gesellschaftlichen Ebene. Und so kann man manchmal zu der Feststellung gezwungen sein, daß vielleicht im Himmel, aber nicht in den konfessionellen Parteien mehr Freude ist über den Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte. Es bleibt für einen außer-, nicht antikirchlichen Sozialisten ein merkwürdiges Erlebnis, wie einerseits von der Verchristlichung unserer Welt als einer zwingenden Notwendigkeit gesprochen wird, jedoch gleichzeitig einem solchen Prozeß Widerstand geleistet wird, weil der konfessionelle parteipolitische Machtapparat wichtiger erscheint als die Kirche und also der Beichtzettel dem Stimmzettel untergeordnet wird. Saubere gesellschaftliche Fronten — sozialistischer, liberalistischer oder konservativer Art — würden der Regeneration des Christentums dienlicher sein als konfessionelle Parteien. Als Vertreter einer gesellschaftlichen Bewegung, der manchmal der Vorwurf ihres kollektivistischen Denkens gemacht wird, darf ich vielleicht für den Individualismus insofern eine Lanze brechen, als ich feststelle: Menschen können und sollen christlich und human sein, Parteien sind weder christlich noch humanistisch.

(Schluß in der nächsten Nummer)

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