6647065-1958_30_12.jpg
Digital In Arbeit

Sozialismus an und für sich

Werbung
Werbung
Werbung

Liest man dieses Buch, dann wird einem Seite für Seite klar, wie hoffnungslos es ist, den modernen Sozialismus in ein einziges Begriffsschema zu fassen. Man merkt und erkennt, daß die gleichen politischen Bezeichnungen in Westeuropa etwas ganz anderes bedeuten als im Osten, dessen leitende Doktrin sich ja bekanntlich auch als „wissenschaftlicher Sozialismus“ bezeichnet, aber auch etwas anderes als in der Mitte unsere Kontinents, dem eigentlichen Kern-gehiet des Marxismus. Die Verfasserin ist eine altbewährte Ideologin der westeuropäischen Sozialdemokratie. Es steht außer Zweifel, daß sie nicht nur über eine jahrzehntelange Erfahrung in der ideologisch-politischen Auseinandersetzung verfügt, sondern die Grundfragen des Sozialismus auch theoretisch sehr gründlich und methodisch durchgearbeitet hat. Und doch stehen wir nicht an, zu behaupten, daß ihr grundsätzliche Dimensionen des Marxismus einfach bis heute nicht „aufgegangen“ sind, daß sie bestimmte Denkoperationen ihrer eigenen geistigen Struktur nach ebensowen.g zu vollziehen vermochte, wie auf der anderen Seite einer der maßgeblichen Ideologen des sowjetischen Marxismus ihren eigenen Denkkategorien zu folgen vermögen dürfte. Sie nennen beide denselben Namen, aber sie sind jeweils außerstande, das mitzudenken und mitzuvollziehen, was der andere beim Klang dieses Wortes empfindet und schlußfolgert. Der Sozizlismus, den leanne Hersch hier darlegt, ist etwas Empirisches. Sie gewinnt seine Umschreibung (von einer Definition im begrifflichen Sinn kann ja keine Rede sein), indem sie die politischen Ideologien unserer Zeit auffächert. Das Schema, das sie auf diese etwas schulmeisterliche Weise gewinnt, ist höchst anfechtbar. Es trägt deutlich die Züge der Zeit, in der das Phänomen des organisierten Faschismus für Europa im Mittelpunkt stand. Die heute in vielen Ländern bestimmenden eigenständigen und neu konzipierten Kräfte der christlichen Demokratie (ideologisch am interessantesten in Italien!) sind überhaupt nicht einbezogen. Statt dessen erscheint christliche Politik im wesentlichen unter der Flagge eines Konservativismus, der recht synthetisch als eine Art Popanz geschaffen wurde. Auch seine Koppelung mit dem klassischen Liberalismus macht ihn nicht wirklichkeitsnäher. Völlig fremd für mittel- oder gar osteuropäische Erfahrungen ist die von Hersch als weitere politische Möglichkeit dargestellte sogenannte „fortschrittlichdemokratische“ Ideologie. Hier kann man sich praktisch nur den Kreis um Roosevelt vorstellen, der aber, wie allgemein bekannt, sofort nach dem Sieg über die faschistischen Mächte in seine Bestandteile zerfiel und kaum mehr als ein bestimmender Faktor der heutigen Ideologie anzusehen ist.

leanne Hersch setzt den solcherart aus der Empirie gewonnenen Sozialismus nun einer hochnotpeinlichen Untersuchung durch die Postulate der politischen Ethik aus, als deren scheinbare Antipoden Macchiavelli und Kant erscheinen. Ersterer im Mantel des P.enaissanceamoralisten, wie er im Geschichtsbuch steht, und der zweitgenannte als Erfinder des kategorischen Imperativs. leanne Hersch sieht diese beiden ethischen Extremhaltungen als unüberbrückbare Gegensätze, zwischen denen der moderne Sozialismus durchzufinden hat. Dies scheint uns völlig irrig: von Macchiavelli, dessen Amoralismus mit anderen Maßstäben als den unseren zu messen und daher auch zu korrigieren ist, ganz abgesehen: Das Kant-Bild ist einseitig und verzerrt. Der kategorische Imperativ ist keinesfalls das Absolutum der Ethik dieses Denkers, die, wie Max Adler und neuerdings Hannah Arendt nachwiesen, von Rousseau herkommend, durchaus revolutionäre, für den Marxismus philosophisch verwendbare Grundzüge trug. Schließlich ist ja Hegel ebensosehr der Schüler Kants, wie er der Lehrer Feuerbachs und Marxens war.

Auf der dritten Stufe ihrer Untersuchung versucht nun' leanne Hersch, nachdem sie den Sozialismus empirisch und ethisch bestimmt hat, den Begriff als solchen ganz rein herauszufiltern, den „Sozialismus an und für sich“ zu finden. Und sie bildet ihn schließlich auch in einer so dünnen, begrifflichen Luft, daß er alle Substanz verliert. Sie definiert ihn als eine Freiheit, die so abstrakt wird, daß Fichte und Hegel dagegen zu politischen Schlagwortfabrikanten werden. Gewiß: ein so beschaffener Sozialismus, der bestimmt den Beifall des an sich vortrefflichen Carlo S c h m i d, der mit Recht das Vorwort schrieb, und einiger anderer Intellektueller findet, weil er sich kaum von jenem Liberalismus unterscheidet, der heute das Credo der Anständigen in allen Lagern ist, kann von jedermann akzeptiert werden! Aber wo gibt es ihn? Wo ist er in der rauhen Wirklichkeit denk- und haltbar? Wir ehren die saubere und folgerichtige Konsequenz der Autorin. Aber sie sieht an der Wirklichkeit vorbei, nicht nur an der der Gegenwart, sondern auch an der der Ideologiegeschichte des Marxismus selbst, die man einfach nicht ignorieren kann. Wer das Buch liest, weiß, was Freiheit bedeuten kann, aber er we'iß nicht, was Sozialismus bedeutet, zumindest jener Sozialismus von gestern und heute, mit dem es unsere Generation zu tun hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung