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Marx als Marxist

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KARL MARX: WERKE. Band IIIl und 102 (Politische Schriften). Herausgegeben von Hans Joachim Lieber. Cotta-Verlag, Stuttgart 1960. Leinen. Preis pro Band 32 DM.

Über die Methoden und Möglichkeiten, das nur sehr oberflächlich „System“ genannte Phänomen des Marxismus wissenschaftlich exakt darzustellen, ohne selbst in sein Denkschema zu geraten, ohne aber auch verständnislos „draußen” zu bleiben und am Wesen der Sache vorbeizugehen, wäre heute bereits selbst ein umfassendes methodisches Werk fällig. Die große Schwierigkeit liegt darin, daß sich die meisten nichtmarxistischen Wissenschaftler diesem Komplex immer nur von einer Seite, eben auf der ihnen durch ihre eigene Disziplin vorgezeichneten Bahn, nähern. Der Nationalökonom wird mit den Instrumenten seiner Wissenschaft kaum in die Marxschen Frühschriften philosophischer Art eindringen können. Auch die „Dialektik der Natur“ von Engels wird er kaum zu bewältigen vermögen. Der reine Philosoph hingegen, der sich mit der Widerlegung oder Kritik des sogenannten „Materialismus“ befaßt, wird bald entdecken müssen, daß er einen Windmühlenkampf führt und das Eigentliche, nämlich die verschieden akzentuierte, in sich selbst widerspruchsvolle Anwendung philosophischer Begriffe, im marxistischen Denken nicht zu deuten vermag. Natürlich kann man sich die Sache auch einfacher machen und den Marxismus als ein Gesamtphänonen von außen her betrachten, etwa als eine Form der Gnosis, eine bestimmte ideologische Spätform der europäischen Philosophie oder was immer. Aber um dies tu können, muß man den eigenen Standpunkt, aus den ich und von dem aus man das System Angeln heben will, derart ausführ nach allen Seiten hin begründen, daß man unwillkürlich in die Auseinandersetzung mit dem gerät, was man eigentlich als Ganzes abzuweisen gedachte, und noch dazu auf einem geistigen Kampffeld, das der Gegner bestimmt und abgesteckt hat. Es bleibt also fürs erste die genetische, wissenssoziologische Methode die brauchbarste. Das heißt: man muß mit der Darstellung Marxens (natürlich nicht nur in der Schlüssellochperspektive des „Roten Preußen“ von Leopold Schwarzschild) beginnen, muß den „Marxismus“, als die praktischdiistorische Erscheinungsform und Entwicklung des von ihm konzipierten und organisierten „Systems“, in seinem dokumentarisch belegten Ablauf (zunächst unter Verzicht auf jede eigene Deutung) darstellen, und erst dann zu den methodischen Arbeiten Vordringen.

Es scheint, daß der Herausgeber der vom Cotta-Verlag, Stuttgart (unseres Wissens nach auf fünf Bände geplanten), wissenschaftlichen Marx-Ausgabe, der Berliner Philosoph Hans-Joachim Lieber, diese Methode angewendet hat, wenn er in den ersten beiden Bänden die ausgesprochen politischen Schriften des kaum in eine einzige Wissensdisziplin einzuordnenden Karl Marx der Edition der klassischen Hauptwerke vorangestellt hat. (Übrigens zeichnet der vor Jahresfrist verstorbene bedeutendste österreichische Kenner der volkswirtschaftlichen Aspekte des Marxismus, Benedikt K a u t s k y, noch für den bevorstehenden nationalökonomi- schen Teil der Ausgabe verantwortlich, die er zusammen mit Lieber als Ganzes geplant hatte.)

Was bedeuten nun die „Politischen Schriften" bei Marx? Sie sind fast durchweg publizistische oder journalistische Arbeiten. Selbst dort, wo sie methodische Zusammenfassungen und thesenartige Schlußfolgerungen bieten, verzichtet Marx nicht auf die ihn charakterisierende temperamentvoll-polemische, dem Tageskampf fiebernd verbundene Ausdrucksweise. Das verlangt natürlich bei sehr vielen dieser, teils für deutsche, teils für angelsächsische Blätter verfaßten Aufsätze einen durchlaufenden historischen Kommentar, ohne den die Anspielungen auf Zeitereignisse unverständlich bleiben müßten. Es ist dem Herausgeber durchaus anzurechnen, daß er sich streng an diese referierende Aufgabe gehalten hat und darauf verzichtete, in den Kommentar irgendein Werturteil einzubauen. Er ist methoden-immanent geblieben und hat dem Leser das eigene Denken nicht abgenommen. Gewiß hat auch er — wie die sowjetamtliche Gesamtausgabe, deren Zenstirmaßnahmen am „Altvater“ selbst man ja weidlich analysiert hat — eine Auswahl vorgenommen, hat das kaum übersehbare Material gesichtet und nach seinen Grundlinien geordnet. Aber er hat — wie dies auch der wissenschaftliche „Amtseid" verlangt —nichts Wichtiges weggelassen und nichts irgendwie Zweifelhaftes hinzugefügt.

Die große Bedeutung und der große Gewinn einer solchen Arbeit liegt darin, daß sie das genetische Studium des Marxismus ermöglicht und auch jene berühmten Nahtstellen und Wegkreuzungen des Gesamtgangs aufzeigt, die von welthistorischer Folge wurden. Der Brief Marxens an die russische Sozialrevolutionärin Wera Zasulitsch (vom 8. März 1881) hat bekanntlich eine entscheidende Wegmarke der russischen Revolution gezeichnet. Es ging um die Beantwortung der Frage, ob die sozialistische Revolution eine vollentwickelte kapitalistische Gesellschaft zur Voraussetzung haben müsse oder ob ein Sprung in die sozialistische Zukunft auch von der Basis der feudalen Verhältnisse unter dem Zarismus möglich sei. Man kann die kurze Antwort Marxens, der den Weg vom vorkapitalistischen „Gemeineigentum” zum Privateigentum als Vorstufe der Sozialisierung vorschlägt, aber nur verstehen, wenn man die sehr gründlichen Konzepte studiert, die sich Marx für diesen Antwortbrief erstellte. Man wird dann diese später als „Kathedralentscheidung“ bezeichnete Marxsche Stellungnahme viel differenzierter und damit richtiger sehen und um so mehr vor der hausbackenen Brutalität zurückschrecken, mit der der Bolschewismus besonders in der Stalinschen Ära mit solchen aus dem Zusammenhang gerissenen „Väterzitaten" Gewaltpolitik machte.

Eine andere, hier wohl erstmals im ganzen Zusammenhang und in ihrer Entstehungsgeschichte zitierte Stelle scheint dem Rezensenten mit die wichtigste des vorliegenden II. Bandes zu sein. Sie ist den Schriften entnommen, die sich im Zuge der Entwicklung der Ersten Internationale mit dem Anarchismus, besonders in der Prägung Bakunins, befaßten. Das „Vertrauliche Rundschreiben des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation" ist zwar von W. Bios (1920) im Rahmen einer grundsätzlichen Arbeit bereits aus dem Französischen übersetzt worden. Lieber aber stellt es hier in den ihm gebührenden Sinnzusammenhang. Mit fast prophetisch anmutenden Worten werden hier jene, damals durch Bakunin vertretenen Tendenzen von der „ausgewählten kleinen Minderheit, die durch höhere Weihen von der Masse abgesondert ist“, den revolutionären Sekten als „Führungsgruppen", den „Meistern und Priestern der Revolution zurückgewiesen. Dies schon Anno 1872. Genau 30 Jahre später schrieb Lenin seine Programmschrift „Was tun?”, die eben das verkündete, was Marx bei Bakunin gegeißelt hatte .. .

Dankenswert ist, daß Lieber in den Anhang die Engelssehe Vorrede zu „Karl Marx vor den Kölner Geschworenen“ «uf- genommen hat, die als das zügigste politische Porträt des Freundes aufgefaßt werden kann.

Wer sich mit diesen Bänden, deren Bedeutung für die Analyse auch unserer unmittelbaren Gegenwart hier nicht einmal skizzenhaft ausreichend dargestellt werden konnte, beschäftigt, wird jenen Weg Enden, der ihm eine nach Menschenermessen objektive und geschichtsgerechte Würdigung der Marxschen Hauptwerke, die hoffentlich in rascher Folge erscheinen werden, erschließen kann.

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