"Lenin, der Marxist, ist nicht mehr"

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Lenins Ankunft am Petrograder Finnischen Bahnhof im April 1917 fiel in die Osterwoche. Im Taurischen Palais verkündete Lenin seine "Aprilthesen" und forderte eine "Änderung des Namens der Partei: Wir müssen uns Kommunistische Partei nennen".

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Lenins Ankunft am Petrograder Finnischen Bahnhof im April 1917 fiel in die Osterwoche. Im Taurischen Palais verkündete Lenin seine "Aprilthesen" und forderte eine "Änderung des Namens der Partei: Wir müssen uns Kommunistische Partei nennen".

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Aus der Altpapiersammlung fällt mir ein Buch in die Hand, in rotem Einband mit eingeprägtem Lenin-Profil: "Marxismus und Staat", herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1960. Eine beachtliche editorische Leistung nach der russischen Erstausgabe 1930: Unzählige Einschübe, Unterstreichungen, Rufzeichen, Notabene, sic!, "Gauner", "Idiotismus" auf 48 engst beschriebenen Seiten (Lenin war notorischer Papiersparer).

Dieser Text entstand in Zürich (Dezember/Jänner 1916/17). Der Untertitel präzisiert: "Die Aufgaben der proletarischen Revolution im Hinblick auf den Staat." Ausgangspunkt ist das Kommunistische Manifest: "Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie." Friedrich Engels' letztes Wort in seinem Todesjahr 1895 war die Einleitung zu Karl Marx' "Klassenkämpfen in Frankreich". Lenin kannte den Brief von Engels an den Herausgeber Karl Kautsky - er fand sein Vorwort "derartig zurecht gestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même dastehe." Tatsächlich hatte "General" Engels, so nannten ihn die Genossen, den parlamentarischen Weg zum Sozialismus betont: "Wir, die ,Revolutionäre', die ,Umstürzler', wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz." Dennoch meinte er, "der Straßenkampf, der offene Angriff" müsse im "Verlauf einer großen Revolution" weiterhin die entscheidende Rolle spielen - gerade diese Aussage fiel der sozialdemokratischen Selbstzensur zum Opfer.

Demokratie schließe Freiheit aus

Es ging um die Diktatur des Proletariats, wie Marx die Pariser Commune von 1871 genannt hatte. Lenin spannte seine Staatstheorie zwischen dieser Übergangsdiktatur zum "Absterben des Staates" aus (auch dies ein Ausdruck Engels'). Lenin löste das Problem kurzerhand: "Gewöhnlich werden die Begriffe Freiheit und Demokratie für identisch gehalten, und häufig wird einer für den anderen benutzt. Sehr häufig vertreten die Vulgärmarxisten eben diese Auffassung. In Wirklichkeit schließt die Demokratie Freiheit aus. Die Dialektik der Entwicklung ist so: Vom Absolutismus zur bürgerlichen Demokratie, von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie; von der proletarischen zu überhaupt keiner."

Als Lenin mit seinen Genossen nach Russland zurückkehrte, war das Manuskript im Gepäck. Nach dem Juliaufstand wich Lenin nach Finnland aus und schrieb nach Petrograd: "Entre nous: falls man mich umbringt, bitte ich Sie, mein Heft ,Marxismus und Staat' herauszugeben (es ist in Stockholm hängengeblieben). Blauer Umschlag, gebunden. Dort sind alle Zitate von Marx und Engels zusammengetragen. In einer Woche Arbeit kann man es, denke ich, herausbringen." Der Adressat wird in der DDR-Ausgabe verschwiegen: Kamenew, der die Stellung in Petrograd hielt, wurde wie Sinowjew und Radek, die in Lenins Waggon waren, 1936 Opfer der ,Säuberung' Stalins.

Lenins Ankunft am Petrograder Finnischen Bahnhof am Abend des 3./16. April (nach julianischem bzw. gregorianischem Kalender) fiel in die Osterwoche. "Von dem Panzerautomobil herab hält er seine erste Rede an das Volk. Die Straßen beben, und bald haben die ,zehn Tage, die die Welt erschüttern' (J. Reed) begonnen. Das Geschoß hat eingeschlagen und zertrümmert ein Reich, eine Welt" - dies der letzte Satz der "Sternstunden" Stefan Zweigs. Vorausgesandt hatte Lenin das Programm mit den "Briefen aus der Ferne":"zuerst die demokratische Republik erkämpfen und den vollen Sieg der Bauern über die Grundherren herbeiführen, und dann zum Sozialismus vorwärts zu schreiten, der allein den vom Krieg gemarterten Völkern Frieden, Brot und Freiheit geben wird."

Trotzki beschrieb nach dem Bericht des unabhängigen Sozialisten Suchanow die Ankunft Lenins anders: "Ins Zarenzimmer kam oder richtiger stürzte Lenin herein, in rundem Hut, mit erfrorenem Gesicht und - einem prächtigen Bukett in der Hand." Nach der Begrüßung durch den georgischen Menschewiken Tschcheidse wendete Lenin sich an die Versammelten: "Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen. Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Rufe unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten, richten werden. Die russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!" Ungewiss ist, ob die Militärkapelle die Marseillaise oder die Internationale (oder beides) spielte.

Lenin auf dem Panzerwagen

Nach dem Sturz der Zarenstatue als Symbol der Februarrevolution bildet die Szene Lenin auf dem Panzerwagen den dramatischen Auftakt von Sergej Eisensteins Stummfilm "Oktober" (1928). Tankwägen waren aufgeboten, um gegen die Bedrohung Petrograds durch die im Baltikum vorstoßende deutsche Armee gerüstet zu sein. Die Ansprache Lenins dürfte so nicht stattgefunden haben; gleichwohl hat die monumentale Statue (1926) vor dem Finnischen Bahnhof die Szene so festgehalten. "Die Soldaten - so Trotzki/Suchanow weiter - verlangten, daß Lenin auf einem Panzerwagen Platz nähme, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Forderung zu erfüllen. Die herabgesunkene Nacht gestaltete den Zug besonders imposant. Bei gelöschten Lichtern der übrigen Panzerwägen durchschnitt der Scheinwerfer des Autos, in dem Lenin fuhr, grell die Finsternis. Im Kschessinskaja-Palais, dem bolschewistischen Stab im Atlasnest der Hofballerina - diese Vermischung muss der stets wachen Ironie Lenins Spaß gemacht haben - begannen die Begrüßungen von neuem." Suchanow blieb "die donnerähnliche Rede" unvergesslich - "der Geist der Vernichtung, der keine Grenzen, keine Zweifel, keine menschlichen Schwierigkeiten, keine menschlichen Berechnungen kennt, schwebte im Saale der Kschessinskaja über den Häuptern der verzauberten Schüler."

Hastig im Zug notierte Thesen

Tags darauf sprach Lenin im Taurischen Palais, das sich damals der Petrograder Sowjet und die provisorische Regierung - Sinnbild der Doppelherrschaft - teilten: die Aprilthesen, von Lenin in der Eisenbahn hastig zu Papier gebracht - keine Unterstützung des "imperialistischen Raubkrieges" und der provisorischen Regierung, "Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft","Aufklärung der Massen darüber, daß die Arbeiterdeputiertenräte die einzige mögliche Form der Revolutionsregierung sind","nicht parlamentarische Republik, sondern eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben","Abschaffung der Polizei, der Armee, des Beamtentums", "Nationalisierung des gesamten Bodens","Arbeiterkontrolle der gesellschaftlichen Produktion", und folgenschwer: "Änderung des Namens der Partei: Wir müssen uns Kommunistische Partei nennen."

Im April 1908 hatte Lenin Maxim Gorki auf Capri besucht und mit Bogdanow Schach gespielt - die Auseinandersetzung mit Bogdanows Erkenntnistheorie im Sinne Ernst Machs forderte Lenins Polemik "Materialismus und Empiriokritizismus" (1909) heraus. Nun nannte der ehemalige Bolschewik Bogdanow Lenins Vorstoß "Wahnvorstellungen eines Irrsinnigen". Auch andere Genossen schüttelten den Kopf: "Lenin, der Marxist, ist nicht mehr. Ein neuer Lenin ist erstanden: Lenin, der Anarchist." In der Prawda vom 9./22. April lenkte Lenin mit der Feststellung ein, "daß die klassenbewußten Arbeiter die Mehrheit für sich gewinnen müssten": "Wir sind keine Blanquisten, keine Machtergreifung durch eine Minderheit." Mit diesem Widerspruch ging die Revolution ihren Weg weiter: Lenin übernahm den Grundgedanken Trotzkis - die "Revolution in Permanenz". Trotzki stellte sich auf den Boden von Lenins Parteitheorie - die Losung "Alle Macht den Sowjets" sollte als gewaltsame Machtergreifung durch die Parteiführung verstanden werden.

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