Lenin

Historiker Dörr zu Lenins 100. Todestag: „Marx hätte ihn ausgelacht“

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Vor Gericht würde Lenin als Massenmörder durchgehen, sagt der deutsche Historiker Nikolas Dörr. Ein Interview anlässlich Lenins 100. Todestages am 21. Jänner über gefährliche kommunistische Träumereien in der Realpolitik, Andreas Bablers Lenin-Büste und das enorme Wählerpotenzial von sozialen „Kümmerparteien“.

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Vor Gericht würde Lenin als Massenmörder durchgehen, sagt der deutsche Historiker Nikolas Dörr. Ein Interview anlässlich Lenins 100. Todestages am 21. Jänner über gefährliche kommunistische Träumereien in der Realpolitik, Andreas Bablers Lenin-Büste und das enorme Wählerpotenzial von sozialen „Kümmerparteien“.

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Wo liegt im Hinblick auf die politische Linke die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur – eine Frage, die den Politologen und Historiker Nikolas Dörr in seinen Forschungen umtreibt. Im Interview erklärt er, warum es gar keine kommunistische Regierung geben kann, Lenin den Marxismus fehlinterpretierte und der Sozialismus als Vorstufe zum „Himmelreich“ beschrieben wurde.

DIE FURCHE: Welche zentralen historischen Eckpfeiler werden mit Lenin verknüpft?
Nikolas Dörr:
Er ist neben Marx einer der ganz zentralen Theoretiker des Kommunismus. Man sagt ja nicht umsonst Marxismus-Leninismus. Historisch geht die Gründung der Sowjetunion auf ihn zurück. Und auch wenn er 20 Jahre vor Beginn des Kalten Krieges gestorben ist: So eine Epoche hätte es wahrscheinlich nicht gegeben, wenn es Lenin nicht gegeben hätte.

DIE FURCHE: Lenin hat versucht, Marx in die Praxis umzusetzen. Ist es ihm gelungen? Ist Marx schuld daran, wofür Lenin verantwortlich gemacht wird?
Dörr:
Grundsätzlich würde ich sagen, dass Marx unschuldig ist an diesen Verbrechen, die geschehen sind. Denn der Unterschied zwischen Marx und Lenin ist, dass Marx Wissenschafter war. Er hat in der Bibliothek gesessen, viel geschrieben, viel gelesen, ein bisschen versucht, sich politisch zu engagieren. Aber eigentlich war er jemand, der in der Theorie geblieben ist, beschrieben hat, wie sich die Menschheit entwickelt hat. Ganz deterministisch: Er ist davon ausgegangen, dass es zunächst zu einer bürgerlichen Revolution kommt und am Ende in jedem Fall zu einer sozialistischen Revolution kommen muss. Lenin wiederum ist jemand, der Marx’ Theorie umgemodelt hat auf die Situation im zaristischen Russland. Was eine Absurdität der Geschichte ist: Wenn Sie Marx gesagt hätten, der ja vor der Revolution gestorben ist, dass Russland das erste Land ist, in dem die sozialistische Revolution stattfindet, dann hätte er Sie bzw. Lenin wahrscheinlich ausgelacht, es für einen Scherz gehalten.

DIE FURCHE: Warum?
Dörr:
Marx’ Theorie braucht ein Industrieproletariat, viele Arbeiterinnen und Arbeiter, sonst funktioniert die Revolution nicht. Das damalige Russland war aber zu 95 Prozent ein Agrarstaat, war eine oder sogar zwei Revolutionsstufen entfernt. Lenin hat mit Marx argumentiert, um in Russland an die Macht zu kommen, und war im Prinzip mehr Militär- und Revolutionstheoretiker als kommunistischer Theoretiker.

Dörr

Nikolas Dörr

Der Historiker und Politikwissenschafter forscht und lehrt an der Hochschule der Polizei in Baden-Württemberg (Deutschland).

Der Historiker und Politikwissenschafter forscht und lehrt an der Hochschule der Polizei in Baden-Württemberg (Deutschland).

DIE FURCHE: Hat Lenin die Marx’sche Theorie missbraucht für seine Machtbegierden?
Dörr:
Das könnte man so sagen. Zwar sagt die Forschung, dass auch Lenin von Marx’ Theorie überzeugt war, sich gegen die Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeiter, von Bäuerinnen und Bauern aussprach. Aber er hat die marxistische Theorie für seine Belange zurechtgezimmert. So hat er etwa eine Imperalismustheorie aufgestellt, gesagt, dass es letztendlich irgendwo anfangen muss, auch in unterentwickelten Staaten, weil es sonst nie losginge. Dennoch: Marx hätte vermutlich gesagt, dass Lenin seine Theorie fehlinterpretiert hat.

DIE FURCHE: Welches Land hätte Marx für seine Revolution gewählt?
Dörr:
Nach der Logik von Marx: Je entwickelter und industrialisierter ein Land, desto eher die Revolution. Dementsprechend setzte er auf Großbritannien oder Deutschland. Vermutlich auf Großbritannien zuerst, weil Friedrich Engels, der ihm damals sehr zugearbeitet hat und große Anteile am Marxismus hat, dessen Vater Fabriken in England besaß, sich dort gut auskannte. Diese besagten Länder sind ja auch die ersten, in denen sich sozialdemokratische Gewerkschaften und Parteien herausgebildet hatten.

DIE FURCHE: Zurück zu Lenin. Viele Ihrer Kollegen bezeichnen ihn als Diktator und Massenmörder. Stimmen Sie dem zu?
Dörr:
Ja, ich würde das vollkommen unterschreiben. Natürlich gilt es, sich die Frage zu stellen, wie man Massenmord definiert. Beginnt es bei zehn Menschen, die man umbringt? War „9/11“ ein Massenmord? Oder beginnt dieser erst, wenn sechs Millionen Juden vergast werden? Man kann hier quantitative Grenzen setzen, einige tun das auch qualitativ. Aber ich denke, Lenin hat in jedem Fall die Grenzen überschritten. Ich beziehe mich nicht nur darauf, was nach ihm, also durchs Stalins Herrschaft, gekommen ist – Lenin war ja ab 1922 weg vom Fenster, starb 1924. Auch zu Lenins aktiver Zeit gab es Massenmord. Das wird häufig vergessen. Etwa die Tatsache, dass Lenin nach der Revolution 1918/1919 die Tscheka als Geheimdienst gegründet hatte, der kein klassischer Nachrichtendienst war, wie wir das heute haben. Die Tscheka ging mit absoluter Gewalt gegen Oppositionelle und Minderheiten vor, die aufbegehrten.
Weiter der Krieg gegen Polen von 1919 bis 1921. Der sowjetisch-polnische Krieg, das war auch ein Eroberungskrieg, und Lenin als Staatsführer befahl ihn. Man geht bei diesem Krieg von mindestens 150.000 Toten aus. Und natürlich gilt es hier auch, den russischen Bürgerkrieg anzumerken, der zwar von außen hereingetragen wurde, aber dennoch von Lenin mehr als vier, fünf Jahre geführt wurde. Man geht hier von mindestens acht Millionen Toten aus. Darunter sind viele Oppositionelle, die Lenin hat hinrichten lassen. Was auch oft untergeht: Die Ursprünge des Gulagsystems gehen auf Lenin zurück. Er war der, und er war damals noch in vollkommenem Besitz seiner geistigen Kräfte, der den ersten Gulag auf den Solowezki-Inseln im Norden von Russland bauen ließ. Dahin wurden Oppositionelle verschleppt. Lenin benutzte auch den Begriff „Konzentrationslager“. Zwar nicht mit dieser Naziterminologie; aber es ging ihm darum, Oppositionelle dort zu konzentrieren, zu inhaftieren. Stalin baute dieses System dann aus. Fest steht also: Vor Gericht würde Lenin als Massenmörder durchgehen.

Es ist schon so, dass auch Marx davon ausging, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter aufbegehren, den Kapitalismus stürzen, den Staat sozusagen an sich reißen. Doch welche Taktiken und Strategien es dafür braucht, wie das praktisch passieren muss, darüber schrieb nur Lenin.

DIE FURCHE: Die Praxis, Oppositionelle wegzusperren: Kommt das so im Marxismus vor?
Dörr:
Nein. Marx hat generell wenig über die Machterreichung geschrieben, sah dies als Automatismus. In seinen Augen ereignen sich Revolutionen alle paar hundert, tausend Jahre automatisch. Wie es passiert, bleibt unklar. Es ist schon so, dass auch Marx davon ausging, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter aufbegehren, den Kapitalismus stürzen, den Staat sozusagen an sich reißen. Doch welche Taktiken und Strategien es dafür braucht, wie das praktisch passieren muss, darüber schrieb nur Lenin. Marx hätte wahrscheinlich in seinem Denken gesagt, dass es nicht richtig sei, Oppositionelle umzubringen oder einzusperren.

DIE FURCHE: In Österreich ist der Kommunismus durchaus ein Thema. Neben dem Rechtsruck bündeln sich auch linke Kräfte. Graz hat eine KPÖ-Bürgermeisterin, in Salzburg werden dem KPÖ-plus-Spitzenkandidaten Kay-Michael Dankl für die kommenden Bürgermeisterwahlen gute Chancen eingeräumt. Wie bewerten Sie es, wenn sich eine Partei "Kommunistische Partei Österreichs" nennt?
Dörr:
Das ist ein Versprechen, das dann eingelöst werden müsste. Denn: Für Marx war der Kommunismus eine Art paradiesisches Ende, vergleichbar mit der Vorstellung vom Himmelreich der katholischen Kirche. Und deswegen ist der Kommunismus eigentlich eine schlechte Beschreibung von Parteien. Wäre die KPÖ der Theorie nach wirklich kommunistisch, dann müsste sie auf die proletarische Revolution hinarbeiten, möglicherweise auch gewaltsam. Dass die KPÖ zumindest in Graz und Salzburg erfolgreich ist, führe ich auf eine Praxis zurück, die sehr an die sozialdemokratische Politik der 1960er/1970er Jahre erinnert.
Die KPÖ gibt sich als soziale Kümmerpartei. Gerade Elke Kahrs KPÖ ist dafür ein Paradebeispiel. Sie macht das, wofür lange die SPÖ stand: Bürgernähe, Sozialberatung, Mieterberatung, vor Ort sein. Und das wird deshalb honoriert, weil es der SPÖ nicht mehr zugetraut wird. Weil sie ähnlich der SPD oder der Labour Party in den vergangenen 20, 30 Jahren eine ziemliche Wende zum Neoliberalismus gemacht hat und erst seit einigen Jahren einen Richtungswechsel versucht. Da ist viel Kredit verspielt worden in der politischen Linken. Und die Leute suchen nach einer Alternative.

Die KPÖ braucht eine Entleninisierung. Denn sie macht im Parlament Sozialpolitik und damit das, was Marx nicht wollte. Marx argumentierte, dass man damit das System stütze.

DIE FURCHE: Zum 90. Todestag von Lenin veröffentlichte die Grazer KPÖ eine Lenin-Lobschrift auf ihrer Homepage, die auch heute noch zugänglich ist. Zu lesen ist dort: „Es liegen mindestens 100 Gründe vor, weshalb die Menschheit von Glück sagen kann, dass es Lenin gegeben hat, und mindestens noch einmal 100 dafür, dass man sich wünschen muss, es gäbe ihn wieder.“
Dörr:
Ich finde das relativ krank. Ich kann Ihnen 100 Gründe nennen, warum wir froh sein sollen, dass wir Lenin nicht mehr haben. Was die KPÖ hier macht, zeigt ihren Widerspruch in sich. Sie setzt in der Öffentlichkeitsarbeit theoretisch Revolutionsrhetorik ein, aber sie bereitet mitnichten eine Revolution vor. Das wäre auch lächerlich. Aber vor allem ältere Genossen ticken hier noch anders und huldigen einem Diktatoren. Wenn sich die KPÖ langfristig in der politischen Landschaft Österreichs durchsetzen will, dann muss sie sich von diesen kommunistischen Begrifflichkeiten verabschieden. Sie braucht eine Entleninisierung. Denn sie macht in der Praxis, im Parlament Sozialpolitik und damit eigentlich genau das, was Marx nicht wollte. Marx hatte argumentiert, dass man damit nur das System stütze. Vielmehr müsse man versuchen, das System zu zerstören, damit etwas Neues entstehen kann, eine Revolution. Und die KPÖ ist natürlich Teil des Systems und hat dadurch sogar Erfolg.

DIE FURCHE: Wie interpretieren Sie die Tatsache, dass die KPÖ immer noch an dieser Rhetorik festhält. Ist das nur ein Storytelling, das bei einem Teil der Bevölkerung einfach gut zieht? Oder steckt dahinter echter Idealismus? Warum lässt man eine Lenin-Huldigung auf der Homepage stehen?
Dörr:
Zwei, drei echte Fundis sind mit Sicherheit in der Führungsetage der KPÖ zu finden. Das ist auch der Grund, warum diese Parteien über Jahrzehnte ein Randdasein geführt haben. In Wahrheit hat aber der Flügel der Reformer für den Erfolg gesorgt. Warum diese Huldigung auf der Homepage steht, ist schwer zu sagen. Entweder aus Gedankenlosigkeit oder aber weil man tatsächliche echte Lenin-Anhänger damit adressieren wollte.

DIE FURCHE: Weg von der KPÖ, hin zur SPÖ. Als der neue Chef Andreas Babler gekürt wurde, gab es viel Wirbel um ein Interview, das er als Traiskirchner Bürgermeister in seinem privaten Wohnzimmer gegeben hatte. Der Autor des Interviews beschrieb in dem Text eine Lenin-Büste, die Babler in einem Regal stehen hatte. Zwar dürfte es sich eher um eine Gag-Miniatur aus Plastik gehandelt haben, aber zumindest hatte es Babler wohl damals nicht gestört, dass diese ein Journalist zu Gesicht bekommt. Wie bewerten Sie das?
Dörr:
Einerseits sollte man das jetzt nicht überwerten. Andererseits: Auch ein kleiner Lenin ist nicht witzig. Lenin war ein Diktator, ein Massenmörder. Marx im Kleinen könnte ich akzeptieren. Der hat keine Menschen umgebracht. Ich finde es unangemessen, so etwas herumstehen zu haben. Dann könnte man auch einen kleinen Gulag aus Plastik danebenstellen und das lustig finden. Ich finde, Andreas Babler sollte diese Figur wegwerfen.

DIE FURCHE: Denken Sie, hinter dieser Büste steht eine Art Unaufgeklärtheit seitens Bablers, oder liebäugelt er wirklich mit Lenins Gedankengut?
Dörr:
Babler ist jemand, der in der Arbeiterbewegung sozialisiert ist. Der wird sich mit Lenin ganz gut auskennen. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach so Reminiszenzen sind, an den antifaschistischen Widerstand oder Ähnliches, die er da hochhält. Oder an den Antiimperalismus anknüpfen will, den Lenin vertreten hat. Dennoch will ich klarstellen: Babler ist für mich kein Leninist, und die SPÖ orientiert sich auch nicht an Lenin. Man sollte diese Causa auch nicht überdramatisieren. Da habe ich ehrlich gesagt andere Probleme mit seiner Politik.

Elke Kahr macht das, wofür lange die SPÖ stand: Bürgernähe, Mieterberatung, Sozialberatung, vor Ort sein. Und das wird deshalb honoriert, weil es der SPÖ nicht mehr zugetraut wird.

DIE FURCHE: Welche denn?
Dörr:
FPÖ und ÖVP haben in den Umfragen mehr als das Doppelte an Prozentpunkten. Dass Babler es nicht schafft, mehr Wähler an sich zu binden, liegt an seiner Strategie. Er gräbt der FPÖ in puncto Migrationspolitik zu wenig Wasser ab und fährt einen Kurs, der nicht breit genug ist.

DIE FURCHE: Wo sehen Sie Parteien wie die KPÖ langfristig?
Dörr:
Ich kann mir vorstellen, wenn sie diese soziale Kümmerpraxis weiter durchzieht und das mit einer Ökoorientierung fusioniert, dann könnte das bei der Jugend, bei nachfolgenden Generationen, durchaus zu Erfolg führen. Hier gibt es definitiv ein Wählerpotenzial. Wie politisch künftige Generationen dann wirklich sind, ist schwer abzusehen. Dass Lenin bei einer solchen KPÖ noch eine Rolle spielt, bezweifle ich. Es kommt immer darauf an, wie viel Raum die Sozialdemokratie einer kommunistischen Partei lässt. Aktuell lässt sie ihr sehr viel.

Lenin im Film: Lesetipp aus dem FURCHE-Navigator

Furche 1970_18_20 - © DIE FURCHE 1970, Nr. 18, S.20
© DIE FURCHE 1970, Nr. 18, S.20

Wohl keine zweite historische Persönlichkeit wurde schon so oft im Film dargestellt wie die Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin, dessen Geburtstag am 22. April sich heuer (1970, Anm.) zum hundertsten Male jährt — Anlaß für grandiose Feiern und Ehrungen in den sogenannten sozialistischen Ländern, Grund genug für eine filmhistorische Betrachtung über die vielfache Interpretation seiner Gestalt im Medium Film, vorwiegend natürlich im sowjetrussischen ... Den ganzen Text aus dem Jahr 1970 finden Sie hier.

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