Roter Platz, roter Gott - Lenin fragte sich, warum die Religion nach der Revolution fortbesteht. Sein Nachfolger Stalin gab eine Antwort, indem er für Lenin ein „heiliges Grab“ errichten ließ. - © iStock/ChEvgeny (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Lenins Gott aus der Wodkaflasche

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Ein Blick mit theologischer Brille auf Lenin zeichnet ein vielschichtigeres Bild als jenes des doktrinären Atheisten: Lenin interessierte sich für sozialistisches Kirchenleben, ließ sich von der Bibel inspirieren, machte aber gegen „Gotterbauer“ in seiner Partei mobil.

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Ein Blick mit theologischer Brille auf Lenin zeichnet ein vielschichtigeres Bild als jenes des doktrinären Atheisten: Lenin interessierte sich für sozialistisches Kirchenleben, ließ sich von der Bibel inspirieren, machte aber gegen „Gotterbauer“ in seiner Partei mobil.

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Schwer vorstellbar, aber Lenin war ein Kirchgänger. Nicht nur als Kind Wladimir Iljitsch Uljanow beim Besuch orthodoxer Gottesdienste; nicht nur als marxistischer Theoretiker Wladimir Iljitsch Lenin im Züricher Exil, wo er in der zur Stadtbibliothek umgewidmeten Wasserkirche die Lektürebausteine für seine ideologischen Hauptwerke zusammensuchte; sondern auch als Berufsrevolutionär mit Decknamen Dr. Jacob Richter besuchte er während seines London-Aufenthalts 1902/03 Gottesdienste. Besonders die „Seven Sisters Church“ hatte es ihm angetan, weil sich an die Gottesdienste in dieser „Sozialisten Kirche“ Diskussionen anschlossen, schreibt seine Frau Nadeschda Krupskaja 1930 in einer Rückschau auf ihr Leben mit Lenin. „Iljitsch mochte diese Debatten besonders gern, weil einfache Arbeiter daran teilnahmen.“

Einmal, erinnert sich Krupskaja, gab es nach einem heruntergeleierten Bibeltext eine Predigt, die den Exodus aus Ägypten ins gelobte Land mit dem Exodus der Arbeiter aus dem Königreich des Kapitalismus ins Reich des Sozialismus verglich. Danach standen alle auf, schreibt sie, und bekräftigten den Predigttext mit dem Lied: „Führe uns, o Herr, vom Königreich des Kapitalismus zum Königreich des Sozialismus.“

Roland Boer, australischer Theologe mit Spezialgebiet Marxismus, nahm diese Beschreibung Krupskajas zum Anlass, sich in mehreren Publikationen mit Lenins Verhältnis zur Religion zu beschäftigen. Denn, so Boer, „Lenin ist kein doktrinärer Atheist, der keine Zeit für Religion hat, sondern seine expliziten Äußerungen zur Religion lassen eine weitaus komplexere und ambivalentere Position erkennen“. Lenins Interesse und Sympathie für Londons christliche Sozialisten blieb nicht einseitig. Als 1907 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands einen sicheren Exiltreffpunkt für ihren fünften Parteitag suchte, bot die bis heute existierende „Brotherhood Church“ Lenin und seinen Genossen Asyl.

Lenin als KP-Paulus

Vor dem Blick auf Boers Lenin-Exegese noch ein Hinweis auf den Exegeten. Xinhua, die staatliche Nachrichtenagentur Chinas, nennt Boer einen Top-Experten für Marxismus weltweit; und der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag über Boer betont, dass er nach Lehraufenthalten an anderen Orten als erster nichtchinesischer Bürger an einer Schule für Marxismus in China („Dalian University of Technologyʼs School“) unterrichtet. In seiner Rezension über Boers Buch „Lenin, Religion, and Theology“ (New York, 2013) schreibt der US-Historiker Paul Le Blanc, der selbst zu Lenin, Leo Trotzki oder Rosa Luxemburg publiziert hat: „Bei der Lektüre dieses Buches (was er sicherlich getan hätte) hätte sich Lenin über Boers Begabung für unglaublich Komisches amüsiert und sich vielleicht über das allzu treffende Erkennens der religiösen Dimensionen seiner revolutionären Perspektiven gekränkt gefühlt.“ Boers Kenntnis der christlichen Theologie sowie sein Respekt vor Lenin und dessen Denken ergeben für Le Blanc „einen frischen, provokanten Beitrag zur Geistesgeschichte, Religionswissenschaft und marxistischen Wissenschaft“.

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