Lenin  - Der britische Schauspieler Frank Windsor (1928–2020)&nbsp;in der Maske für ­seine Rolle&nbsp;<br />
in Tom Stoppards Stück&nbsp;„Travesties“, aufgeführt&nbsp;von der Royal ­Shakespeare&nbsp;<br />
Company am Aldwych ­Theatre in London im&nbsp;<br />
Mai 1974. - © Bild: Bild: Getty Images / Hulton Archive / Express/ John Downing (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Lenin von der Rolle

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Unsere Autorin lässt in ihren Werken lebende Prominente auf historische Figuren treffen. Was, wenn Klaus Maria Brandauer Wladimir Iljitsch Lenin verkörperte? Ein fiebrige Fiktion.

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Unsere Autorin lässt in ihren Werken lebende Prominente auf historische Figuren treffen. Was, wenn Klaus Maria Brandauer Wladimir Iljitsch Lenin verkörperte? Ein fiebrige Fiktion.

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Sie sind Leserinnen und Leser einer Qualitätszeitung, wie Sie soeben beweisen. Sie alle kennen dennoch meinen Mann, Anton Wurmitsch, aus den Chronikseiten des Boulevards, denn der Boulevard ist überall. Über alle Wege kriecht er in die Hirne. Sie wissen daher: diese gewisse Körperverletzung.

Lassen Sie mich erzählen, wie das blaue Auge von Klaus Maria Brandauer entstanden ist. Lassen Sie das meine kleine Revolution sein. Ich kommuniziere sonst knapp, unliterarisch und über Funk (ich bin Fluglotsin), und beim Stichwort „Lenin“ hätte ich beim „Activity“-Spielen vor zwei Jahren noch die Fahnen gestrichen; mittlerweile weiß ich, dass es harmlose Träumer gibt. Und gefährliche.

Es ist nichts als die Wahrheit, dass Anton ein Filmfreak ist, als Kind verwachsen mit einer Super 8, als junger Erwachsener mit Videorekorder am Auge unterwegs, jetzt, ergrauend, mit der Digitalisierung dieser Materialien beschäftigt – und im Werbefilmbusiness hängengeblieben. Bewegte Bilder, bewegter Mann! Er wollte die österreichische Politgeschichte mehrteilig verfilmen, aber mehr als ein interessiertes Nicken von Gerhard Zeiler beim Stichwort „Schärf“ ist dabei nicht herausgekommen.

Wenn er abends anfing, schweigend in sein Weinglas zu starren, brachte ich ihn oft zum Lachen: Gene Hackman als Bruno Kreisky. Margaret Rutherford, die Schwarzweiß-Miss-Marple, als Johanna Dohnal. Arnold Schwarzenegger als Jörg Haider.

Zum permanenten Erinnern verdammt

Irgendwer hat auf einer Zoom-Party, als uns allen die Themen ausgingen (Corona), nebenbei erwähnt, dass Brandauer Ähnlichkeit mit Lenin hat. Und wissen Sie was? Das stimmt. Die Augen: als wären sie Brüder. Kaum waren wir in dieser Nacht in der REM-Phase angelangt, schnellte Anton hoch: „2024! Ist! Lenin-Gedenkjahr!“, rief er. Natürlich war ich auch wach; wenn er eine Idee gebiert, rennt er auf und ab, unsere Wohnung ist nicht allzu groß. „Wir haben noch Vorlaufzeit“, schwärmte er und wiederholte ständig dieses „2024! 2024!“.

Unsere Kultur ist ja zum permanenten Erinnern verdammt, alle Bücher, alle Filme stützen sich auf die Vergangenheit, wie mir scheint. Alle hatten viel Zeit zum Verschicken von E-Mails, noch war Lockdown. Ich lächelte schmerzhaft-verstellt, als Anton eines Morgens meldete, ein Freund habe Kontakt zu Daniel Kehlmann hergestellt, der wie kein anderer dazu bestimmt sei, das Drehbuch für KMB als Lenin zu schreiben. Und siehe da, Kehlmann „biss an“, wie es so schön heißt.

„Er sagt“, erzählte mir Anton triumphierend, „dass er den Film schon vor sich sieht. Lenin im Exil in der vermeintlich ruhigen Schweiz, wo es von Spionen wimmelt. 1914: Das pazifistische Getue seiner Sozialistenkollegen stößt ihn ab. Er will Bürgerkrieg. Nur mit Gewalt ist der Imperialismus zu stürzen! Die Macht des Geldes! Er ist ein Getriebener. Close-up auf Schweizer Uhren. Zu Hause wartet die Krupskaja, während Lenin sich in den Bibliotheken seine Ideologie anliest und über Papierkaskaden reproduziert (übrigens müsste die Krupskaja von Maggie Smith gespielt werden, die haben auch die gleichen Augen). Dann der Zug nach Russland, gesponsert vom deutschen Wilhelm. Eine Szene im Kabinett des Kaisers, wie er seinen Kaffee trinkt, die Uhr hört man ticken, es tickt und tickt, dann Überblendung mit dem Bummbumm des Schlachtfelds. Weiter! Brandauer-Lenin entsteigt dem Zug. Menschenmengen wie die Wassermassen der Newa. Überblendung! Weiter! Weiter!“

Unsere Wohnung füllte sich mit Lenin, wie andere sich mit Buddha füllen. Unser Buddha war allerdings nicht rundlich und lächelte, sondern trug Schnurrbart und schaute stechend. Bücher von und über Lenin begannen erst die Regale zu verstopfen, dann wucherten sie auf die Korridore. Wussten Sie, dass Lenins gesammelte Werke auf Englisch 55 Bände umfassen? Jetzt wissen Sie’s.

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