Verwitterte, verzerrte Revolutionsfolklore
Wie Lenin-Bilder gemacht wurden und was davon bleibt: Eine Spurensuche im Vorfeld des 100. Jubiläums der Russischen Revolution von 1917.
Wie Lenin-Bilder gemacht wurden und was davon bleibt: Eine Spurensuche im Vorfeld des 100. Jubiläums der Russischen Revolution von 1917.
Bei meinem Besuch Leningrads, pardon: Sankt Petersburg, fuhr ich, mit einem Reiseführer aus Sowjetzeiten in der Tasche, sogleich zum Finnischen Bahnhof am Lenin-Platz, um die Lokomotive Nr. 293 zu sehen. Meine in dürftigem Russisch gestellte Frage nach "Lokomotif Lenina" an die Kontrollorin der Bahnsteigsperre rief ein staunendes Lächeln hervor. Da ich die erforderliche Kopekenmünze nicht hatte, wurde mir freundlich geöffnet. Und da stand sie, die ehedem so berühmte Lokomotive, auf dem Abstellgleis in einem Glasschrein mit Gedenktafel, Resten von Kränzen, auf den Bänken davor eine triste Gruppe von Alkoholikern. Die Lokomotive erinnert an die zweite Ankunft Lenins im Revolutionsjahr 1917 auf diesem Bahnhof.
Die provisorische russische Regierung, die der politisch wie militärisch gleich unfähige Kerenski dominierte, war 1917 außerstande, mit den erschöpften Truppen die letzte Offensive des Generals Brussilow zum Erfolg zu führen. Der ersehnte Frieden blieb aus; ein Militärputsch drohte. Wohl verstärkte sich die Parteiorganisation der Bolschewiki, doch scheiterten Streiks und Demonstrationen im Juli. Lenin wurde als deutscher Spion verdächtigt und entzog sich drohender Verhaftung mit falschem Pass auf den Namen eines Arbeiters Iwanow, unkenntlich durch Abnahme des Bartes und Perücke. Die hundert Tage der Illegalität verbrachte er dann in einer Heuhütte bei dem Arbeiter Nikolai Jemeljanow am See von Rasliw. Die erzwungene Muße nutzte Lenin für die Ausarbeitung seines Manuskripts über "Marxismus und Staat", jenes blaue Heft, das den zweiten Schritt der Revolution vorbereiten sollte.
Die Heuhütte wurde 1927 in Granit nachgebaut. Nahebei markieren Baumstümpfe aus Marmor Lenins Sitzgelegenheit für die Niederschrift von "Staat und Revolution" auf der Grundlage des blauen Hefts. Wiederum knüpfte Lenin an Engels an: "An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft', er stirbt ab."(Anti-Dühring) Lenin blieb weiterhin pedantischer Marx-Engels-Exeget: Man spürt seine Genugtuung, wenn er den berühmten Brief von Marx an seinen Freund Joseph Weydemeyer einfügen konnte, wonach Marx nicht Klassen und Klassenkampf "erfunden" habe, wohl aber den Begriff der Diktatur des Proletariats, die "selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet". Lenin begann ein VII. Kapitel; es blieb bei der Überschrift. Vor der Drucklegung 1918, nach dem Sieg der Oktoberrevolution, merkte er im Nachwort an: "Allerdings wird der zweite Teil dieser Schrift (der den Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917 gewidmet sein soll) wohl auf lange Zeit zurückgestellt werden müssen; es ist angenehmer und nützlicher, die ,Erfahrungen der Revolution' durchzumachen, als über sie zu schreiben."
Als Heizer verkleidet
Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn zitierte später in der Einleitung zum Folgeband des "Archipel Gulag" Lenin, "von Hummeln umsummt, auf den heuduftenden Wiesen von Rasliw", die Revolution werde "als eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache viel weniger Blut kosten () als die vorherige Unterdrückung".
Die sowjetische Revolutionsfolklore hat sich Lenins Aufenthalt in Rasliw, ein beliebter Ausflugsort 30 Kilometer westlich von Petrograd, bemächtigt. Sogar Romane erschienen: "Jura in der Leninhütte" von Auguste Lazar und "Das blaue Heft" von Emanuil Kasakewitsch. Im Herbst übersiedelte der immer noch getarnte Lenin nach Helsinki. Mit der Entwicklung in Petrograd stand Lenin in dauernder Fühlung. Erst im Oktober kehrte Lenin in die revolutionsbereite Hauptstadt zurück. Lenin hatte mit dem finnischen Lokomotivführer Jalava Bekanntschaft gemacht und verkleidete sich als Heizer, um durch die Kontrollen zu kommen. Das Jalava-Lied ist durch die österreichische Musikgruppe "Schmetterlinge" (Proletenpassion, 1976) bekannt geworden: "Von Sonne und Kessel schwarzgebrannt und auch vom scharfen Wind, / steht Jalava am Führerstand, wo Dampf und Flammen sind. / Sein neuer Heizer ist dabei, der ihm das Feuer nährt, / auf der Lokomotive zwei-neundrei, die heut nach Rußland fährt." Von dieser Episode an blieb Lenin der Kopfbedeckung der Eisenbahner-bzw. Arbeitermütze treu. Sie wurde, zum stets korrekten Anzug mit Weste und Krawatte getragen, sein Erkennungszeichen und machte Mode unter den bolschewistischen Intellektuellen (und heute unter westlichen Russlandtouristen).
1917 badete und angelte Lenin am Rasliwer See, auch soll er bei der Heuarbeit mitgeholfen haben. Auch die Vorkriegssommerfrische in Galizien hatte den stets revolutionär Konspirierenden mit weichem Hut und Beilstock über die Berge wandernd gesehen, die Taschen des Sportanzugs stets mit Zeitungen vollgestopft. Es wird erzählt, dass Lenin dort mit dem Fahrrad zum Postamt fuhr und gerne im kalten Dunajec badete.
Rhetorik mit Hut
Dass Eisensteins Oktober-Film Lenin bei seiner ersten Ankunft am finnischen Bahnhof schon mit der zerknüllten Arbeiterkappe auftreten lässt, entspricht nicht den Tatsachen. Erst seit dem Sommer von Rasliw ist diese Tarnkappe seine Lieblingskopfbedeckung geworden, die trefflich zur Unterstützung der Rhetorik diente. Dieses ikonografische Detail geht auf jene, wegen ihrer Manipulation durch Stalin bekannt gewordene Fotografie zurück, die Lenin auf einer Holztribüne vor dem Großen Theater in Moskau zeigt, als er zu Truppen sprach, die an die polnische Front abgingen (1920). Trotzki und Kamenew am Fuß der Tribüne wurden auf Veranlassung Stalins wegretuschiert. Das pathetische Revolutionsbild von Aleksandr Gerasimow vereint die Attribute des Agitators, wie sie auch in den einst unzähligen Statuen mit Variationen erscheinen: Lenin, die Hand am Revers angeklammert, die andere Hand wegweisend vorgestreckt, der Mantel zugeknöpft oder im Revolutionsturm wehend. In Odessa rettete der Mantel seinen Träger: Die angeordnete Entfernung des Lenin-Denkmals konnte durch die Umwandlung in eine Darth-Vader-Statue abgewendet werden. Aber die Sache ist auch ernst: Im Kampf um die Ostukraine wurden Lenin-Statuen zum umstrittenen Symbol, in Charkow starben zwei Lenin-Verteidiger durch Mitglieder des Rechten Sektors.
"Leninwagen" als Ausflugsziel
Eine Fotografie zeigt Lenin beim Aufenthalt in Stockholm auf der siebentägigen Fahrt von Zürich durch Deutschland im berühmten exterritorialen Waggon (Film: "Der Zug", 1988, mit Ben Kingsley als Lenin). Mit schwedischen Sozialisten sieht man die Reisenden in einer Stockholmer Geschäftsstraße, im Stechschritt mit Regenschirm und bürgerlichem Hut: Lenin. Die ausgehungerte Reisegesellschaft wurde von Bürgermeister Lindhagen mit Smørrebrød gelabt. Zwei Frauen waren mit auf der Reise: Lenins Gattin Nadeshda Krupskaja, mit riesigem Hut nicht sehr vorteilhaft, sowie Inès Armand, Lenins Freundin und Genossin, die ihn bei seiner politischen Arbeit in Paris und der Schweiz unterstützt hatte, in elegantem Reisekleid.
Letztes Jahr habe ich auf der Insel Rügen dem "Lenin-Wagen" im Fährort Saßnitz nachgefragt: Vom Stadtführer erfuhr ich, dass der berühmte, 1977 aufgestellte Waggon um 1990 entfernt wurde. Nach einigen Jahren ist der preußische D-Zug-Waggon nun bei der DB-Akademie im ehemaligen Kaiserbahnhof Potsdam gelandet. Er ist, wie aus reger Internet-Korrespondenz von Eisenbahnfreunden hervorgeht, mit Sicherheit nicht authentisch. Zu DDR-Zeiten war der Waggon beliebtes Ausflugsziel für Schulklassen und Betriebsbelegschaften. Nur ein verwitterter Gedenkstein erinnert noch an das Umsteigen auf die Fähre nach Trelleborg auf jener welthistorischen Fahrt. Gegenwärtig plant die Stadt Saßnitz eine Ausstellung zu diesem symbolträchtigen Thema.
Die angeordnete Entfernung eines Lenin-Denkmals in Odessa konnte durch die Umwandlung in eine Darth-Vader-Statue abgewendet werden -dank des im Revolutionsturm wehenden Mantels.