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Korrekturen zu Singer

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Ladislaus Singer hatte mit einer Reihe von Funkporträts einst prominenter Kommunisten und Sozialisten und mit einigen Büchern ähnlichen Inhalts Erfolg.

Seine Erfolge haben die Produktivität des mehr als achtzigjährigen Autors nicht erlahmen lassen.

Unter dem unzutreffenden Titel „Korrekturen zu Lenin“ hat Singer 1980 abermals eine Serie von - im Detail informativen - Kurzbiographien und Ereignisskizzen vorgelegt, das Ergebnis fünfzehnjähriger Forschungsarbeit, wie er selbst sagt.

Singer setzt damit seine Einführung in den Marxismus für Anfänger fort, dieses Mal ausschließlich in den Sowjetkommunismus. Lenins Vita zeichnet er von den letzten Lebensjahren her. Er konzentriert sich auf den vergeblichen Kampf des todkranken Diktators um die Befolgung seiner Intentionen und meint dabei auch, gegen die künstliche Trennung eines nur guten Lenin von Stalin angehen zu müssen.

Mit den Porträtskizzen Felix Dsershinskis („Lenins Großinquisitor“), Ju- lij Martows („Lenins Weggenosse und Gegenspieler“), Karl Radeks („Sendbote der Weltrevolution in Deutschland“), Georgij Tschitscherins („Lenins adeliger Außenkommissar“), Anatolij W. Lunatscharskijs („Lenins genialer Kulturkommissar“) und Ines Armans („Lenins einzige Liebe“) bringt Singer die „Korrekturen“ zu Lenin an, will heißen Ergänzungen zur Fixierung auf den kultisch vergötterten oder dämonisierten Parteispalter und Staatsgründer.

Nicht Doktrinen und Dogmen werden erörtert; die Mithandelnden sollen in ihrer Individualität nahegebracht werden, so scheußlich oder verderblich ihr Wirken gewesen sein mochte. Aus Singers Lebensbildern blicken sie uns gewinnend an, mitmenschlich, als ob sie literarische Erfindungen, „geniale“ Bühnen- oder Romanfiguren seien.

Nicht Vermenschlichung ist das Resultat, so Günther Wagenlehner, der Herausgeber, in seinem Vorwort, sondern Verharmlosung. Das dürfte auch für die Umstände von Lenins und Dsershinskis Tod gelten. Die Banalität des Bösen ist nicht die ganze Wahrheit.

Die Sympathiewerbung für seine „Helden“ geht denn doch zu weit, wenn etwa in Singers Wiedergabe ein Lenin- Zitat dort abbricht, wo’s peinlich, wo’s verräterisch-fürchterlich wird. Das große Geschehen, die Millionen Opfer bleiben Folie; über die miesen Intrigen, die charakterliche Erbärmlichkeit huscht der Pinsel hinweg.

Den sieben biographischen Sketches fügt Singer als letztes Kapitel „Der Kampf um Lenins Erbe: Trotzkis Entmachtung“ an, denn es ergänzt das Scheitern Lenins mit dem Debakel seines Mitsiegers, das schon in dessen Herkunft und Wesensart zwingend angelegt war. Davor ist eine Studie über den sowjetisch-polnischen Krieg von 1920 plaziert („Auf nach Berlin“).

Wagenlehners Behauptung, Singers Buch hätte die meisten Leser zweifellos im Sowjetbereich, stimmt schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Gerade dort will man von all diesen Dingen, so oder so geschönt, nichts wissen. Man ist mittlerweise auf andere Art aufgeklärt worden.

Die bedenkenswerte Beziehung zur Gegenwart ist eine andere: Es wird selbst in diesen Strichelbiographien deutlich, wie der - in anderer Hinsicht skandalöse - Zarismus mit den revoluz- zernden Söhnen und Jungladies aus adligen Nestern und besten Stuben verfuhr, zum Unterschied von ihrem Tun als Machthaber und von den Praktiken ihrer Nachfolger und es zeigt sich auch, mit welcher Bildung die’alte Gesellschaft ihre Herausforderer ins Exil entließ und wie sehr die geistige Armut des Sowjetsystems nicht wenige der heutigen Dissidenten wider ihren Willen - und ohne daß sie es wissen - geprägt hat.

Mehr als eine Arabeske an der Skizzensammlung ist Singers gereiztes Verhältnis zu den Historikern unter den Experten im Westen, denen er, wie die ausführlichen Zitate belegen, allerdings nicht eben wenig verdankt. Deshalb muß aber offenbar der Name ihres Nestors nicht korrekt geschrieben werden, wie überhaupt der Leser gehalten ist, des Autors und des Verlags Helfer zu sein:

In Lenins „Testament“ eine fehlende Negation einzusetzen, um den Satzsinn herzustellen, und andere Sach-, Stil- und Setzfehler zu berichtigen. Quellenhinweise fehlen völlig; ein Personenregister ist vorhanden. Das Buch dürfte nicht nur Slawisten und Osteuropa-Historikern zugedacht sein, die die vielen (kleinen?) Fehler der „Korrekturen“ zu korrigieren wissen.

KORREKTUREN ZU LENIN. Von Ladislaus Singer. Seewald Verlag, Stuttgart 1980. 257 Seiten, öS 229,50

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